Europa in der Krise
Das Ende eines Tabus: Kann die EU zerbrechen?
9. November 2015, 21:06 Uhr aktualisiert am 9. November 2015, 21:06 Uhr
Lange galt Europa ohne die Europäische Union als unvorstellbar. Das ist vorbei. Führende Politiker sehen die EU in einer Existenzkrise. Sie warnen: Das Zusammenrücken Europas könnte auch scheitern.
Jahrzehntelang war es ein Tabu, unvorstellbar, undenkbar, unaussprechbar. Nun aber hält man in Brüssel alles für möglich: Sogar das Ende der Europäischen Union. Bisher gaben die politischen Verantwortungs- und Würdenträger der EU sich immer ganz gelassen: Krisen machten die EU nur stärker, weil die inzwischen 28 Mitgliedsstaaten dann zum Zusammenrücken gezwungen seien.
Und an Krisen mangelt es ja nicht: Verfassungskrise, Finanzkrise, Ukrainekrise und Flüchtlingskrise - das sind nur die derzeit wichtigsten. "Die europäische Integration ist irreversibel", hieß es stets gebetsmühlenartig. Auf Deutsch: Europas Zusammenwachsen lässt sich nicht rückgängig machen, Europa hält jede Krise aus.
EU "kann auseinanderbrechen"
Jetzt aber ist es anders: "Europa befindet sich in einer Existenzkrise", sagte der erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans. Der Niederländer, zweitwichtigster Mann der Kommission und bekannt als Freund strategischen Denkens, gestand Ende Oktober: "Was bisher unvorstellbar war, wird jetzt vorstellbar: Die Desintegration des Projekts Europa." Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, dessen Land derzeit den Ratsvorsitz der EU innehat, drückte es am Montag in einfacheren Worten aus: "Die Europäische Union kann auseinanderbrechen."
So deutlich hatte es Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Anfang September noch nicht formulieren wollen, als er in seiner Rede über die Lage der Union vor dem Europaparlament sagte: "Unsere Europäische Union ist nicht in einem guten Zustand. Es gibt nicht genug Europa in der Union, und es gibt nicht genug Union in der Union."
Zwischen Juncker und Timmermans lag der sogenannte Flüchtlingsgipfel der 28 EU-Staats- und Regierungschefs vom 15. Oktober. Dort war das Elend der EU überdeutlich geworden. Mit zwei wichtigen Themen - dem drohenden britischen EU-Austritt und der Vertiefung der Währungsunion - hatte man sich mangels Einigungsaussichten gar nicht erst beschäftigt. Und mehr als notdürftige "Feuerlöscharbeiten" seien auch in Sachen Flüchtlingspolitik nicht herausgekommen, analysiert Jannis Emmanouilidis vom renommierten European Policy Centre (EPC).
"Die Situation ist in den vergangenen Jahren deutlich schlechter geworden", konstatiert er: "Ein zunehmender Mangel an Vertrauen hat zu tiefen Gräben in der EU geführt." Es gebe immer mehr Misstrauen zwischen den EU-Regierungen, Misstrauen zwischen den Regierungen und den EU-Institutionen und Misstrauen zwischen den Bürgern und deren nationalen Politikern.
Bröckelige Wertegemeinschaft
Zudem habe die Flüchtlingskrise gezeigt, dass die Regierungen die Lage völlig unterschiedlich bewerteten: "Manchmal sieht es aus, als lebe man auf unterschiedlichen Planeten." Und dies führe zu "einer weitverbreiteten Ansicht der Bürger, dass die existierende EU immer weniger in der Lage ist, die vorhandenen Probleme zu lösen", so Emmanouilidis.
"Die Gesamtstruktur unserer Union ist in Gefahr", formuliert der Liberalen-Fraktionsvorsitzende im Europaparlament, Guy Verhofstadt: "Wenn die Politik der Hoffnung und Leidenschaft nicht die Politik der Angst ersetzen kann, dann marschiert Europa auch weiterhin auf einen Sturm zu, der immer größere Ausmaße annimmt."
Die immer wieder betonte europäische "Wertegemeinschaft" erweist sich als bröckelig. Weder in der Finanz- noch in der Flüchtlingskrise scheinen zwischen den Regierungen vereinbarte Regeln wirklich verbindlich zu sein: Voraussetzung für den grenzenlosen Verkehr innerhalb des Schengen-Raums ist beispielsweise eine wirksame Kontrolle der EU-Außengrenzen. Asselborn fürchtet, falls es keine europäische Lösung gebe und immer mehr Länder nationale Lösungen suchten, "dann ist Schengen tot". Schengen sei aber die wichtigste Errungenschaft der EU gewesen. Asselborn: "Die Gefahr ist ganz klar da. Wir haben vielleicht noch einige Monate Zeit."
In vielen EU-Staaten ist die Rechte auf dem Vormarsch. Bei Wahlen - zuletzt in Polen und Dänemark - schnitten vor allem jene Parteien gut ab, die weniger Europa und mehr nationale Entscheidungen wollen. "Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg fürchten die Eltern der Mittelklasse, dass es ihren Kindern schlechter als ihnen selbst gehen könnte - das führt zu einem Mangel an Selbstbewusstsein, und das sickert in unsere demokratischen Strukturen ein", sagte Timmermans vor dem Thinktank Friends of Europe.
Asselborn fürchtet, die EU könne das Vertrauen der Bürger verlieren, wenn der Kitt gemeinsamer Werte und gemeinsamen Handelns zerbrösele, und auseinanderbrechen. "Das kann unheimlich schnell gehen, wenn Abschottung statt Solidarität nach innen wie nach außen die Regel wird." Und: "Dieser falsche Nationalismus kann zu einem richtigen Krieg führen."