Nahostkonflikt
Ost-Jerusalem, Hauptstadt der Verzweiflung
20. Oktober 2015, 18:22 Uhr aktualisiert am 20. Oktober 2015, 18:22 Uhr
Nirgendwo stoßen Israelis und Palästinenser heftiger zusammen als im annektierten Osten der israelischen Metropole. Religion, Besatzung und Hoffnungslosigkeit verbinden sich zu einer explosiven Mischung.
Pilger und Touristen machen sich dieser Tage in der Altstadt von Jerusalem eher rar. Denn eine Welle von Messerattacken verunsichert Israel - und vor allem Jerusalem. Der Kellner im Café an der Kreuzung Al-Wad-Gasse/Via Dolorosa freut sich über jeden Gast. Nicht weit von hier erstach am 3. Oktober, einem Schabbat, der Palästinenser Mohanned Hallabi zwei ultra-orthodoxe Juden. Sie waren gerade vom Gebet an der Klagemauer gekommen.
Nun wimmelt es hier von Militär und bewaffneter Grenzpolizei. Gegenüber dem Café haben vier Soldaten auf einer winzigen Fläche in der engen Gasse eine Art Kontrollzone eingerichtet. Sperrgitter markieren ihren Bereich. Viel zu tun gibt es nicht. Aus einer Gruppe palästinensischer Jugendlicher, die vor dem gegenüberliegenden Hospiz herumlungern, greifen sie sich einen Teenager heraus. Vielleicht, weil sie sein Grinsen als unverschämt empfinden.
Tödlicher Messerangriff auf ultra-orthodoxe Juden
Der Jugendliche muss sich mit dem Rücken zu den Soldaten an eine Hauswand stellen, die Arme und Beine auseinander. Ein Soldat tritt ihm von hinten in die Knöchel. Der Jugendliche spreizt die Beine weiter und grinst. Ein paar routinierte Handgriffe der Soldaten geben Gewissheit, dass der Junge unbewaffnet ist. Er kann gehen.
Der tödliche Messerangriff auf die beiden ultra-orthodoxen Juden hat die Emotionen aufgewühlt. Der 21-jährige Aharon Bennett und der 41-jährige Nehemia Lavi waren Rabbiner. Bennetts Frau und ihr zweijähriges Kind wurden verletzt. Lavi starb, als er der Familie zu Hilfe eilte. Er lehrte an der Jeschiva (Religionsschule) der religiös-zionistischen Bewegung Ateret Kohanim. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Ost-Jerusalem und die Altstadt nach der Eroberung durch Israel im Sechstagekrieg 1967 "jüdisch" zu machen. Keine 20 Meter vom Café entfernt ist die auffallend große israelische Fahne zu sehen, die über der Ateret-Kohanim-Jeschiva weht.
Bennetts Frau Adelle rammte der Attentäter das Messer in den Rücken. Dutzende Meter soll sie sich so durch die Altstadt-Gassen geschleppt haben. Später erzählte sie den Medien, dass die palästinensischen Händler in den Geschäften sie ausgelacht, verhöhnt und ihr den Tod gewünscht hätten, anstatt ihr zu helfen.
Aus unabhängiger Quelle bestätigen lässt sich das nicht. Die Polizei lud einige Altstadt-Araber wegen unterlassener Hilfeleistung vor. Die Stadtverwaltung schikaniert seitdem auch die Händler und Café-Betreiber in der Al-Wad-Gasse mit saftigen Geldstrafen für kleine Vergehen. "Vor zwei Tagen kamen sie und brummten mir eine Strafe von 500 Schekel (114 Euro) auf, weil auf den Tischen Aschenbecher standen", klagt der 77-jährige Kaffeehausbetreiber Aschur Dschuweilis. Dabei seien die nur für die Wasserpfeifen-Raucher gewesen. Er hat jetzt sein Lokal geschlossen, weil er sich weitere Strafen nicht leisten kann.
Was will Netanjahu wirklich?
Die Altstadt von Jerusalem ist das Epizentrum der jüngsten Gewaltwelle. Sie lagert sich um den Tempelberg, ein Heiligtum der Juden wie der Muslime. An der Klagemauer am Fuße des Hügels beten die Juden. Das Plateau mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom ist den Muslimen für rituelle Handlungen vorbehalten. Viele Juden suchen es auf, weil dort der von den Römern zerstörte zweite jüdische Tempel stand. Nach Lehrmeinung der meisten jüdischen theologischen Schulen dürfen sie aber dort nicht beten.
Inzwischen gehen auch rechts-radikale Politiker und Siedleraktivisten auf das Tempelberg-Plateau, um den Machtanspruch des Staates Israel auf die seit 1967 besetzten und annektierten Gebiete zu unterstreichen. Die Palästinenser beunruhigt das. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bestreitet freilich, den Status quo auf dem Tempelberg ändern zu wollen.
Die andere Seite bleibt misstrauisch. Junge Palästinenser, die verbittert sind über die anscheinende Endlosigkeit der israelischen Besatzung und die sich - im Freundeskreis, über soziale Medien - selbst radikalisiert haben, schreiten zur "Tat".
Wohin Staatsgelder fließen
So schrieb der 19-jährige Altstadt-Attentäter Hallabi auf seiner Facebook-Seite: "Die Palästinenser werden die Angriffe der Juden auf die Al-Aksa-Moschee nie und nimmer hinnehmen." Polizisten erschossen ihn nach seiner Bluttat. Sie stand mit am Anfang einer Gewaltserie, die bislang acht Israelis, einen Afrikaner und weit über 40 Palästinenser das Leben kostete. Die Hälfte der getöteten Palästinenser waren Angreifer wie Hallabi, die anderen starben bei Zusammenstößen mit dem israelischen Militär - an den verhassten Kontrollpunkten im Westjordanland oder am Grenzzaun des von Israel blockierten Gazastreifens.
Wenn die Altstadt das Epizentrum der Gewalt ist, dann ist das annektierte Ost-Jerusalem die offene Wunde des erbitterten Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Vor der Eroberung 1967 lebten die Menschen in Ost-Jerusalem unter jordanischer Verwaltung. Der Einzug Israels bedeutete, dass auf dem Land der Palästinenser israelische Wohnviertel - praktisch jüdische Siedlungen - errichtet wurden.
Das palästinensische Ost-Jerusalem mit seinen 320 000 Einwohnern ist deshalb heute auf etwa zwei Dutzend voneinander separierte Wohnviertel aufgesplittert. Als Israel auf die Selbstmordattentate reagierte und eine Betonbarriere im Bereich der Grenze zum Westjordanland hochzog, die aber an manchen Orten tief in die besetzten Gebiete einschneidet, wurden Stadtteile wie Sur Baher oder die Flüchtlingsstadt Schoafat vom Rest Jerusalems räumlich abgetrennt.
Das Geld des Staates und der Jerusalemer Stadtverwaltung fließt vor allem in die jüdischen Stadtviertel des Ostens, die palästinensischen Wohngegenden machen einen vernachlässigten Eindruck. Dennoch haben es die Palästinenser aus Ost-Jerusalem besser als ihre Landsleute im Westjordanland. Anders als diese haben sie nämlich israelische Personalausweise, mit denen sie sich in Israel frei bewegen können. Zehntausende von ihnen arbeiten in Israel. Viele sprechen Hebräisch.
Neue Betonmauern
Aber vielleicht gerade deshalb stoßen Palästinenser und Israelis nirgendwo intensiver zusammen als in Ost-Jerusalem. Hier leben Palästinenser, die unmittelbar erfahren, wie sich ihre ärmliche Lebenswelt anscheinend unumkehrbar von der des reicheren Israels abkoppelt. Die Älteren mögen sich in dieses Schicksal gefügt haben und froh sein, wenn sie ihre unterbezahlten Hilfsjobs behalten können. Doch unter den Jungen wächst die Verzweiflung.
Mehr als 70 Prozent der Attentäter der jüngsten Gewaltwelle kommen aus Ost-Jerusalem. Fast alle sind unter 20, viele unter 18 Jahre alt. Am Sonntag hat Israels Polizei damit begonnen, Betonmauern um einige der palästinensischen Wohnviertel hochzuziehen. Der geplante Bau einer längeren Mauer zwischen jüdischen und arabischen Vierteln wurde jedoch nach scharfer Kritik rechtsorientierter Minister vorerst auf Eis gelegt. Sie fürchten, es könnte der erste Schritt zu einer Teilung der Stadt sein, die Israel als seine "ewige und unteilbare" Hauptstadt beansprucht.
Die Mauern sollten die "Problemzonen" von den jüdischen Siedlungen trennen. Denn diesen machen nicht nur die Messerattacken zu schaffen. "20 Jahre lang hatten wir mit unseren Nachbarn keine Probleme", so beschreibt es Jehuda Ben Jussuf, der Vorstand des Gemeindezentrums von Armon Hanaziv. Die jüdische Siedlung grenzt an das palästinensische Dschabal Mukaber. "Aber seit den Gaza-Operationen 2012 (israelische Bomben-Kampagne als Antwort auf Raketenbeschuss durch die Hamas) ist es sehr unangenehm für uns. Jugendliche nutzen die Anhöhe und werfen Steine und Brandflaschen auf uns herab."
Das Kontroll-Regime
Am 13. Oktober kaperten zwei Männer aus Dschabal Mukaber einen städtischen Bus in Armon Hanaziv und töteten zwei Bürger der Siedlung mit Schüssen und Messerstichen. Zu Wochenbeginn begann die Polizei, auch um Dschabal Mukaber Betonblöcke zu errichten, die den Autoverkehr stoppen.
Abu Mohammed, ein alter Mann, der am Stock geht, muss am Kontrollpunkt aus dem Bus steigen, der nicht mehr wie früher weiterfährt. Nach der Inspektion seiner Papiere schleppt er sich über die Straße, um mit einem anderen Bus ins Krankenhaus im Westen der Stadt zu fahren. "Ich bin ein kranker Mann, für mich ist das eine Tortur", sagt er.
Ein Kontrollregime dieser Art war bisher für das Westjordanland typisch, nicht für Ost-Jerusalem. Fast zwangsläufig geht es einher mit einer Minderung der Lebensqualität der Menschen hinter den Kontrolllinien, mit Zeitverlusten, Mühen und Demütigungen. Die Verzweiflung der Jungen dürfte dadurch weiter steigen. Ost-Jerusalem beanspruchen die Palästinenser als Hauptstadt ihres künftigen Staates, dessen Schaffung weiter denn je in die Ferne gerückt scheint. Eine Hauptstadt der Verzweiflung ist es schon jetzt.
Auf die Terroranschläge der Einzeltäter, der sogenannten "einsamen Wölfe", reagiert Israel hart, auch gegenüber Angehörigen getöteter Attentäter. Diesen kann nun das Aufenthaltsrecht in Israel aberkannt werden. Eine besonders umstrittene - und international als Sippenhaft abgelehnte - Strafe sind die Hauszerstörungen. Diese sollen nun beschleunigt werden - auch wenn sie als Abschreckung für künftige Täter offensichtlich nicht wirken, wie die Journalistin Amira Hass in der linksliberalen Tageszeitung "Haaretz" feststellt.
Als Alaa zum Terroristen wurde
Am 6. Oktober rissen die Behörden die Wohnung der Familie von Ghassan Abu Dschamal in Ost-Jerusalem nieder. Abu Dschamal war einer von zwei Attentätern, die im November 2014 eine Synagoge in Jerusalem überfielen und vier Juden mit Schüssen und Messerstichen töteten. Beide Männer wurden von Sicherheitskräften erschossen.
Die Familie des Terroristen erlebte brutale Hausdurchsuchungen und wiederholte Vorladungen zu unangenehmen Verhören. Abu Dschamals Cousin Alaa Abu Dschamal stand ihr in all den Monaten bei. Am 6. Oktober war er nicht nur Zeuge, wie die Behörden die Wohnung der Familie seines Cousins niederrissen, sondern auch, wie sie die seiner Eltern und die seines Bruders schwer beschädigten.
Als Angestellter der israelischen Telekom-Firma Bezek war Alaa Abu Dschamal fast schon so etwas wie ein gemachter Mann. Er rief die Polizei an und beschwerte sich über die ungerechtfertigte Beschädigung des Wohnraums seiner Verwandten. Vergeblich. Angeblich erntete er sogar Hohn und Beschimpfungen seitens der Polizei. So schilderte es zumindest ein Verwandter gegenüber der "Haaretz"-Journalistin Hass. Aus unabhängiger Quelle bestätigen lässt es sich nicht.
Am 13. Oktober stieg Alaa Abu Dschamal in seinen Dienstwagen und raste in eine Bushaltestelle in West-Jerusalem. Dann stieg er aus, nahm ein Messer und erstach den von ihm niedergefahrenen 60-jährigen Rabbi Jeschajahu Kirschavski. Alaa wurde zum Terroristen. Polizisten setzten seinem Leben ein Ende.