Deutschland um 1849

Publizist Jörg Bong über die Zeit, in der die LZ gegründet wurde

Jörg Bong war bis 2019 Verleger des Fischer-Verlags. Mit "Die Flamme der Freiheit" hat Bong den ersten von drei Bänden zur deutschen Revolution 1848/49 vorgelegt. Im Interview spricht er über die Revolutionsjahre.


Jörg Bong: Literaturwissenschaftler, Lektor, Verleger, Herausgeber, Autor, Publizist und Fotograf.

Jörg Bong: Literaturwissenschaftler, Lektor, Verleger, Herausgeber, Autor, Publizist und Fotograf.

Von Uli Karg

Jörg Bong, Autor und Herausgeber, war bis 2019 Verleger des Fischer-Verlags. Unter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec hat er das Erfolgsformat "Kommissar Dupin" erdacht. Mit "Die Flamme der Freiheit" hat Bong 2022 außerdem den ersten von drei Bänden zur deutschen Revolution 1848/49 vorgelegt - ein Buch auf das man, so jubelte der Kritiker der "Neuen Zürcher Zeitung", 175 Jahre lang gewartet habe. Im Interview spricht er über die Revolutionsjahre - und ihre Bedeutung fürs Zeitungswesen.

Herr Bong, die "Landshuter Zeitung" erschien erstmals am 1. April 1849, im Jahr zuvor ist König Ludwig I. zurückgetreten - allerdings nicht aufgrund revolutionären Drucks, sondern wegen seiner Affäre mit Lola Montez. Was war das Königreich Bayern damals für ein Land?

Jörg Bong: Im Frühjahr 1849 war Bayern in einiger Hinsicht ein sehr progressives Land. Ab März/April 1848 hat die März-Regierung einige Reformen umgesetzt, Bayern bekannte sich zur Verfassung, die Ende 1848, Anfang 1849 in Frankfurt verabschiedet worden ist. Das war ein Modell parlamentarischer Monarchie. Im ganzen Südwesten war die parlamentarisch-demokratische Bewegung damals sehr stark - in Bayern großartigerweise bereits 1830/31 und dann in den 1830ern mit dem Bayerischen Landtag. In Bayern gab es deutschlandweit den ersten demokratisch-politischen Diskurs in einem Landtag. Fabelhaft! Ich finde, das ist noch gar nicht genug aufgearbeitet. Im Frühjahr 1849, also um die Zeit der Gründung der "Landshuter Zeitung", gibt es in Bayern sehr starke Kräfte, die willens sind, zumindest dieses Stück an mehr Freiheit und Demokratie der Frankfurter Verfassung umzusetzen. Die hatte fantastische Basiselemente - die Grundrechte etwa. Das wäre ein Riesenfortschritt gewesen, vor allem wegen der Grundrechte, die ja dann in die Weimarer Verfassung eingingen und in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.

In "Die Flamme der Freiheit" wird der demokratische Aufbruch als Revolutionskaskade dargestellt, die sich von Paris über Wien bis nach Berlin vollzogen hat. Maßgeblich war sie der Nachrichtenrevolution durch den optischen Telegrafen geschuldet...

Bong: ... wobei es damals eine ganze Reihe technischer Revolutionen gab. Neben dem optischen Telegrafen zum Beispiel die Schnelldruckpresse oder der Ausbau der Bahnlinien in den 1830er- und 40er-Jahren. Mit dem Transport von Personen wurde auch der Transport von Nachrichten beschleunigt. Wenn im Jahr 1800 etwas in Wien passierte, brauchte die Nachricht zwei Wochen, bis sie in Berlin war.

So schnell wie ein Pferd laufen konnte.

Bong: Genau. 1848 dauerte es von Wien nach Berlin immer noch eine Woche. Allerdings brauchten Nachrichten von Köln nach Paris bloß noch 24 Stunden. Weil mit den Reisenden auch die Zeitung reiste. Zu Revolutionsbeginn schossen die Medien wie Pilze aus dem Boden. Freiheitliche Medien, Zeitungen, Vereinszeitungen.

Bis heute gibt es eine Verbindung zwischen Kaffeehäusern und Presse - vor allem in Österreich, wo immer noch zig eingespannte Exemplare in Zeitungshaltern am Zeitungsständer hängen...

Bong: Das geht auf diese Zeit zurück. In Cafés und Gasthäusern kam oft ein Zeitungsexemplar an, dann kletterte jemand auf einen Tisch, las stundenlang vor, und dann wurde jeder Abschnitt diskutiert. Das waren die ersten Formen von Öffentlichkeit in Deutschland. Das spielt bis heute nicht nur in Österreich, sondern auch im ganzen süddeutschen Raum eine Riesenrolle. Damals war das alles neu. Davor gab es Versammlungsverbote. Jetzt gibt es plötzlich Unmengen von Zeitschriften und Zeitungen. Das Ganze hatte eine völlig neue Geschwindigkeit.

Interessant, dass Sie die Geschwindigkeit erwähnen. Im ersten Satz der ersten Nummer der "Landshuter Zeitung - Für Wahrheit, Recht und gesetzliche Freiheit" heißt es: "Das Rad der Zeit läuft in unseren Tagen mit rasendem und sinnesverwirrenden Umschwunge."

Bong: Toll! Die "gesetzliche Freiheit" bezieht sich übrigens auf die Verfassungskampagne. Die Verfassung lag vor, das Parlament in Frankfurt sagte: Das ist verbindlich für alle deutschen Staaten. Und dann sagten diese Staaten: Wir sind dabei. Sie erkannten das also an. Darauf beziehen sich Sätze wie "Für Wahrheit, Recht und gesetzliche Freiheit". Die "Landshuter Zeitung" reklamierte damit, dass dies von nun an auch für sie gilt. Sie wird ja in der letzten Phase der Revolution geboren, das war die Verfassungsphase - und die Phase, nach der März-Phase, in der eine "echte Revolution" am wahrscheinlichsten war. Preußen hat es dann mit brutaler Militärintervention verhindert, aber ein paar Wochen lang sah es gar nicht schlecht aus.

In Ihrem Buch ist von einer Fülle von Zeitungen die Rede, die sich damals gründeten. Es gab für jede politische Strömung was. Inwiefern war angesichts dieser, auch weltanschaulichen, Fülle die Presse Träger der demokratischen Idee?

Bong: Die Presse hatte eine zentrale Rolle. Ohne sie hätte es 1848/49 nicht in dieser Art gegeben. Gustav Struve, einer der großen Vordenker der Demokratie, sagte schon ganz früh: "Die öffentliche Meinung ist der neue Campusplatz." Und die muss man erobern. Wie Sie sagten: Alle gründen sie Zeitungen.

Wie viele dieser Gründungen haben die Revolutionsjahre überdauert?

Bong: Es gründeten sich Tausende von Blättern. In Orten mit 1000 Einwohnern entstanden drei Zeitungen. Die eine hat zehn Nummern, die andere fünf oder 30. Der "Festungsbote" aus Rastatt ist so ein Beispiel: Da gründet ein Journalist aus Mannheim eine Zeitung mit 14 Ausgaben in der Belagerung. Und auch nur für die Zeit der Belagerung. Abgesehen davon hing der Fortbestand einer Zeitung natürlich davon ab, wie sie politisch ausgerichtet war. Die demokratischen Blätter sind fast alle 1849 verboten oder auf Linie gebracht worden. Von den liberalen Zeitungen haben viele weiterexistiert, die konservativen sowieso.

Inwiefern hat diese Zeit den Gedanken der freien Presse getragen?

Bong: Die Idee der modernen, freien Presse ist damals geboren worden. Die gab es zwar schon in London und Paris, in Deutschland aber nicht ansatzweise. Das passierte wie eine Explosion. Zeitungen verstanden sich damals wiederum nicht als neutrale Berichterstatter, sondern im Gegenteil: Alle hatten eine politische Position. Und so können Sie die Zeitungen ganz einfach ordnen nach liberal, konstitutionell, parlamentarisch-liberal, konservativ-fürstlich, demokratisch, kommunistisch und so weiter. Die demokratischen Zeitungen verpflichten sich dem Ethos der politischen Aufrichtigkeit, beziehen aber auch Position. Schon damals gab es innerhalb des demokratischen Spektrums große Unterschiede, auch bei den Zeitungen - das ist auf heute übergegangen.

Wie beurteilen Sie die Situation der Presse heute - zwischen Fake News, Social-Media-Bubbles und der Zukunftsfähigkeit des Modells Tageszeitung?

Bong: Fake News, Lügen, Manipulation und Hetze gab es auch damals schon - und auch Zeitungen, die das druckten. Sie hatten aber auch Zeitungen mit dem strengsten journalistischen Ethos, die der Wahrheit und Aufklärung verpflichtet waren. Was heute betrifft: Es gehört zur Strategie der Antidemokraten, die Idee zu torpedieren, dass es eine objektive Wahrheit gibt, die sich formulieren lässt. Wenn wir das verlieren, ist die Möglichkeit eines aufklärerischen Diskurses verspielt. Qualitätsjournalismus ist das demokratische A und O - und war es auch damals schon, indem sich die demokratische Presse der Wahrheit und Aufklärung verpflichtet hat. Die teils erbärmliche Armut der Bevölkerung wurde zum Beispiel bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verschwiegen. Dann machte Robert Blum, einer der führenden Köpfe der Demokraten, 1847 eine Reise ins Erzgebirge, sieht die Menschen zu Tausenden verhungern und sagte dann: Schluss mit der Taktik des Verschweigens, das wird jetzt öffentlich gemacht. In Deutschland waren es übrigens vier Frauen, die das Mitte der 1840er-Jahre erstmals thematisiert haben.

Wie Frauen überhaupt zentrale Gestalten der Revolution 1848/49 waren, wie Sie herausgearbeitet haben...

Bong: Die Frauen spielen eine sehr große Rolle. Voll kühnen Mutes, weil sie überhaupt keine Rechte besaßen. Aus dem politischen, gesellschaftlichen und institutionellen Leben wurden sie komplett rausgehalten, sie hatten weder passives noch aktives Wahlrecht. 1848/49 engagierten sich Tausende von Frauen politisch - 90 Prozent davon mit einer klaren demokratischen Gesinnung.

Nochmals zurück zum Journalismus: Was waren das damals für Menschen, die Zeitung machten?

Bong: Aufseiten der Demokraten waren es häufig Juristen, aber auch Philologen und Philosophen. Aufseiten der Liberalen wiederum Kaufmänner. Gemeinsam war ihnen allen, dass sie selbst Unternehmer wurden - und dabei ein großes Risiko eingingen. Zeitungen konnten damals jederzeit verboten werden. Selbst bei den Pressefreiheiten, die nach der Revolution gewährt wurden, gab es immer noch Einschränkungen. Die Fürsten verkündeten zunächst eine umjubelte Pressefreiheit. Die konstitutionellen Regierungen arbeiteten dann die Verordnungen aus. Und dann stehen da so Sätze wie: Pressefreiheit ja - aber nur, solange es keinem Strafgesetzparagrafen zuwiderläuft. Die Strafgesetzparagrafen stammen aber noch aus der Zeit der Despotie. So war es in Preußen gesetzlich verboten, dass Arbeiter sich treffen, um ihre Arbeitsbedingungen zu besprechen. Weshalb es auch nicht in der Zeitung stehen durfte. Nach diesem Schema vollzog sich die "Pressefreiheit" - auch in Bayern.

Womit wir beim Konjunktiv wären, den Sie bereits eingangs bemühten: Die Frankfurter Verfassung "wäre" ein Riesenfortschritt gewesen. Daraus wurde jedoch nichts. Sie haben im Zusammenhang mit 1848/49 einmal von einer "katastrophal verpassten Chance" gesprochen. Was wäre damals möglich gewesen und lässt sich daraus bis heute etwas lernen?

Bong: Zunächst ist es so, dass Zehntausende von Demokratinnen und Demokraten, die unser Land hatte, völlig vergessen sind. Die wurden besiegt, und die Sieger haben dann 80 Jahre lang die Geschichte in ihrem Sinn geschrieben. Erst in der Weimarer Republik wurde auf diese Revolutionäre geschaut. Die wurden ja hingerichtet oder vertrieben. Das war ein demokratischer Substanzverlust, wie man ihn in Deutschland sonst nur ab 1933 hatte. Es waren junge Menschen, die in riesigen Massen ins Ausland gingen - und die fehlten natürlich. Niemand wird je sagen können, welchen Verlauf die Geschichte genommen hätte, wenn das nicht passiert wäre. Aber natürlich war das ein großer Moment der deutschen Geschichte, wo alles möglich gewesen wäre. Die Skeptiker sagen: Preußen hätte sie so oder so überrannt. Aber man weiß es nicht. Es hätte auch der Beginn eines vereinten demokratischen Deutschlands sein können. Oder - und das ist eine durchaus realistische Option, bei der auch die Zeit der Gründung der "Landshuter Zeitung" wieder ins Spiel kommt - man hätte sich auf die bereits erwähnte parlamentarische Monarchie geeinigt. Das ist allerdings von der Reaktion und den Fürsten völlig hintertrieben worden.

Sie hatten die Idee der deutschen Einigung erwähnt. Im Raum stand damals sogar eine europäische Einigung. War das reine Utopie oder ein konkretes politisches Ziel?

Bong: Die politischen Lager differenzieren sich 1848 extrem klar, was die Nation und den Nationalismus betrifft. Die Demokraten richten sich ganz stark europäisch und international aus und fordern ganz explizit eine europäische Union der Völker. Das war übrigens auch gar nicht neu. Schon in der frühen Romantik war das ein großes politisches Thema. 1849 gab es in Paris einen großen Kongress zur europäischen Einigung, bei dem Victor Hugo die Eröffnungsrede hielt. Schauen Sie sich das mal an, was da alles formuliert wird! Der "Völkerfrühling" taucht bei Ludwig Börne bereits 1818 auf, für Heine war Europa ein Lebensthema, im Vormärz gibt es einen riesigen europäischen Traum.

War das ein Elitenprojekt oder gab es dafür auch Sympathien in der breiten Bevölkerung?

Bong: Teils war es ein Elitenprojekt, wobei die Geografie eine große Rolle spielte. Es gab in Deutschland eine große Nord-Süd- und eine Ost-West-Demarkation. Norden/Osten und Süden/Westen. In Bayern, Baden und Württemberg hatten sie sehr große Sympathien für Frankreich, die Schweiz, Österreich, Italien - und auch für den europäischen Gedanken. Wenn sie in Hamburg, Breslau oder Berlin aufgewachsen wären, hätte das Thema in der Bevölkerung keinen großen Stand gehabt.


Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Beilage "175 Jahre Mediengruppe Attenkofer".