Gehörlosigkeit im Alter
Es geht auch ohne Opas Senf
4. Oktober 2022, 16:33 Uhr aktualisiert am 4. Oktober 2022, 16:33 Uhr
Mein Großvater hört nach einem Gehörsturz fast nichts mehr. Wie er es trotzdem schafft, sich ins Leben zu integrieren.
"Lass uns für das Interview in ein anderes Zimmer gehen", schlägt mein Großvater vor. Wenn sich mehr als zwei Personen im Raum befinden, ist es für den 85-jährigen Wolfgang Gemmer schwierig, ein Gespräch zu führen. Er leidet seit einigen Jahren an zunehmender Schwerhörigkeit. Zwar liegt im Wohnzimmer ein schallschluckender Teppich und meine Oma unterhält sich im Hintergrund nur im Flüsterton, doch schon die leisesten Nebengeräusche können ein verständliches Gespräch für Wolfgang unmöglich machen.
Viele Entzündungen des Mittelohrs
Schon als Kind hörte er schlecht. Ich habe mich seit unserem Kennenlernen im Jahr 2008 - per Definition ist er nur mein Stiefopa - daran gewöhnt, dass er Hörschwierigkeiten hat. Genauer nachgefragt habe ich aber noch nie. Im Jahr 2010 heirateten mein Großvater und meine Großmutter Ingrid Vossieg und wohnen seitdem zusammen. Normalerweise in München, zurzeit in ihrer alten Heimat - Velbert in Nordrhein-Westfalen. Dort könne er sich besser von Hör- und Rückenproblemen erholen.
Seit dem Grundschulalter habe er viele Mittelohrentzündungen auf dem rechten Ohr erlitten, erzählt er. "Das war eine sehr schmerzhafte Angelegenheit, denn entgegen heutigen Behandlungsmethoden wurde sowas damals nur punktiert." Das ist ein kleiner Schnitt im Trommelfell und war eine übliche Behandlungsweise bei wiederholten Mittelohrentzündungen. In der Folge verlor er auf diesem Ohr rund 25 bis 30 Prozent seiner Hörfähigkeit. Die Frage danach, was anschließend passierte, muss ich wiederholen, da entfernt ein Flugzeug fliegt. "Jedes kleinste Nebengeräusch bereitet mir kolossale Schwierigkeiten, auch wenn die Flieger zehn Kilometer über mir sind."
Mein Großvater arbeitete für die AOK-Versicherung, ehe er sich Anfang der 2000er Jahre lange um seine pflegebedürftige Frau kümmerte, die schließlich an ihrer Krankheit starb. Er habe sich im Leben niemals ausgeruht, worin er auch eine der Ursachen für seine Hörbeschwerden sieht.
Im selben Jahr stieg er wieder voll beim Weißen Ring ein, für den er zuvor schon ehrenamtlich tätig war. Der Weiße Ring ist eine Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer und deren Angehörige. Er sei auch an Wochenenden tagsüber und nachts ans Telefon gegangen und habe sich nie zurückgenommen. "Ich hatte wegen meiner Arbeit keine Zeit, die unheimliche Belastung durch meine kranke und verstorbene Frau zu verarbeiten."
Die Spracherkennung des iPads kann helfen
Wir unterhalten uns ohne das iPad als Hilfsmittel. Bei unvermeidlichen Nebengeräuschen helfe es zwar, dennoch funktioniere die Spracherkennung oft nicht. Gelernt habe er die Bedienung sehr schnell, doch er nutze es seltener als erhofft. Die Spracherkennung arbeite nicht schnell genug und viel werde missverstanden. Im Alltag zu zweit habe sich nicht viel verändert. Ohne Nebengeräusche hört mein Großvater noch relativ gut und meine Großmutter muss nicht viel beim Verständnis helfen.
Im Jahr 2007 dann der Hörsturz: Er verursachte zwar keine Schmerzen, führte aber innerhalb weniger Stunden zur vollständigen Taubheit auf dem linken Gehörorgan. Trotz Operation. "Da war nichts mehr zu retten." Medizinisch handelte es sich um einen stummen Hinterwandinfarkt. Grund dafür seien Überlastung und Stress.
Der Infarkt trifft das gesunde Ohr
"Ich habe seit 50 Jahren keinen Schnupfen mehr gehabt, aber dann so ein Pech. Die Tragik kommt für mich zusammen: Ich hatte ein weniger gutes Ohr und ein gesundes Ohr. Der Infarkt traf das gesunde Ohr." Zusätzlich verschlechterte sich seine Hörfähigkeit auf dem rechten Ohr bereits vor dem Infarkt um circa 30 Prozent.
Mit Hörfähigkeit meine er hier jedoch nicht die Lautstärke, sondern das Sprachverständnis. Seitdem höre er seine Gesprächspartner von der Lautstärke her vergleichsweise ganz gut, er verstehe sie aber sprachlich nicht. Insbesondere bei sonoren Männerstimmen tue er sich schwerer als bei helleren Frauenstimmen.
Wolfgang war von nun an auf sein bereits geschwächtes rechtes Ohr angewiesen. Dies habe zu einer erheblichen Lebensumstellung geführt, nicht zuletzt, weil er von nun an allein lebte. Das Zusammenziehen mit meiner Großmutter drei Jahre später vereinfachte die Situation wieder. "Mein Gehirn muss quasi wie bei einem Kleinkind die Sprache neu lernen, um Menschen zu verstehen." Ob er es noch mal vollständig schaffe, alle Vokabeln zu erlernen bezweifle er. Aber lesen könne er ja noch, scherzt Wolfgang.
"Ich habe meine fünf Sinne nicht mehr beisammen"
Im gemeinsamen Familienurlaub im Oktober 2021 konnten wir uns noch einigermaßen normal miteinander unterhalten. Im Mai 2022 verstand mein Großvater meine telefonischen Geburtstagsglückwünsche akustisch nicht mehr. Er ging davon aus, ich rufe wegen seines Geburtstags an - und bedankte sich im Vorhinein, erinnere ich mich. Bei Telefonaten hört er seit einigen Monaten gar nichts mehr.
Mein Opa unterhält sich aber ohnehin lieber persönlich und hat gelernt, positiv mit der Einschränkung umzugehen. Der Sinn für Humor blieb: "Ich habe meine fünf Sinne nicht mehr beisammen." Und auch von seinen Hobbys hält ihn das nicht ab. Leidenschaften wie etwa schwimmen, spazieren gehen oder lesen sind immer noch wichtige Bestandteile in Wolfgangs Alltag.
Meine Großmutter meint, sportlich schaffe er nicht mehr so viel wie früher. Deshalb müsse er sich jetzt zwangsläufig vermehrt auf das Lesen konzentrieren, ob in Büchern, in der Zeitung, im Teletext oder die Untertitel beim Fernsehen. Und das stört ihn nicht: "Da ich ein Mensch bin, der auch allein sein kann, macht mir das wahrscheinlich weniger aus als anderen Menschen, mehr für mich selbst und indirekt weniger in Gesellschaft zu sein - ob nun physisch oder akustisch."
Wenn wir als Familie oder meine Großeltern mit Freunden zusammensitzen, hilft meine Oma viel. Sie wiederholt die gesagten Dinge und fragt, ob er alles verstanden hat. Wenn meine Großeltern zu zweit zuhause essen, fernsehen oder lesen, spielen die Hörprobleme eine untergeordnete Rolle. "Zu zweit ist das kein Problem, deswegen habe ich dich anfangs auch in ein anderes Zimmer gebeten." Nach unserem Gespräch gibt es Abendessen. Wir sitzen mit der Familie am Tisch und unterhalten uns. Die Geschirrgeräusche reichen jedoch schon aus, dass Wolfgang schwer mitreden kann. Glücklich wirkt er dennoch. "Mir macht's nichts mehr aus. Wenn ich sehe, dass sich die Gesellschaft gut unterhält, auch ohne meinen Senf, dann fühl ich mich wohl in der Gesellschaft."
Zum Autor
Timon Vossieg studiert in Passau Journalistik und strategische Kommunikation. Sein Beitrag ist in einer Lehrredaktion entstanden, die in den Studiengang integriert ist. Die Lehrredaktion wird von Redakteuren unserer Mediengruppe betreut.