Judentum

Drei Menschen, ein Glaube: Wie Juden in Bayern leben


Blumen und Kerzen stehen neben der Tür zur Synagoge in Halle, vier Tage nach dem rechtsextremistischen Anschlag auf die Gemeinde.

Blumen und Kerzen stehen neben der Tür zur Synagoge in Halle, vier Tage nach dem rechtsextremistischen Anschlag auf die Gemeinde.

Von Simone Ketterl

Zwischen Antisemitismus und Alltag: Rund 16 000 Juden leben in Bayern. Mit dreien von ihnen haben wir über ihre Erfahrungen, Wünsche und Ängste gesprochen.

München Giesing. Heinrich Rotmensch sitzt auf einem Metallstuhl und nimmt einen Schluck Schwarztee. Vor ihm steht ein Glastisch mit Blumendecke. Darauf die Keramiknachbildung einer Synagoge (Die Erklärung zu allen Wörtern, die im Text gefettet sind, findest du hier), stapelweise Kassetten und Fotos. Erinnerungsstücke aus 94 Jahren, Heinrich Rotmenschs bisherigem Leben. Er beginnt zu erzählen. Melodisch, die schlesische Färbung deutlich hörbar.

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David Weissmann.

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Heinrich Rotmensch (mitte).

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Diana Liberova.

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14 sei er gewesen, als ihn die SS aufgegriffen habe. Im Winter 1939, wenige Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen. Ein schmächtiger Junge mit blonden Locken. Dass ein SS-Mann einige Tage zuvor seinen Vater erschossen hatte, habe er damals nicht geahnt. Wie auch. Im Lager Johannesdorf habe er seine Familie nicht kontaktieren können.

Die französische Armee befreite Heinrich Rotmensch

Später, im KZ Fünfteichen und in Buchenwald, habe die Ungewissheit noch zugenommen. Schlimm sei das alles gewesen, am schlimmsten aber in Spaichingen. "Die Nazis haben Mörder aus den Gefängnissen geholt und als Aufseher eingesetzt, um uns zu vernichten", sagt Heinrich Rotmensch. Seine Stimme wird brüchig. Mit bloßen Händen habe er in einer Lehmgrube geschuftet. In Lumpen gehüllt. Frierend und hungrig. "Viele haben das nicht ausgehalten und sich erhängt."

Kurz vor Kriegsende räumte die SS das Lager, trieb die Häftlinge Richtung Südosten, erschoss die Schwachen. Bei Bad Wurzach befreite die französische Armee die Überlebenden. "Moi, juif", habe Heinrich Rotmensch gerufen, "ich bin Jude." Sein Gegenüber habe das Maschinengewehr gesenkt, sei auf ihn zugegangen und habe ihn umarmt. Sehr, sehr lange. Der Sohn des Rabbis von Casablanca, wie sich später herausstellte. Nach dem Krieg hat Heinrich Rotmensch einen erfolgreichen Jeansladen in München betrieben, wo er seit den 50er-Jahren lebt. "Ich habe hier viele Menschen kennengelernt und wurde von den meisten gut aufgenommen." Er zeigt auf die Kassetten, die sich vor ihm türmen: "Kennen Sie eigentlich Klezmer?", fragt er. "Ich habe über 1 000 jiddische Songs gesammelt." Am besten gefalle ihm "Meine jiddische Mamme" von Hana Hegerová, weil es so schön sei und so traurig.

Jiddisch erinnert Diana Liberova an ihre Kindheit

Selbstverständlich hat auch Diana Liberova das Stück im Repertoire. Mit ihrem kraftvollen Sopran tritt die Nürnbergerin in verschiedenen Klezmer-Formationen auf. Für sie sei das wie eine Oase im Alltag. "Ich nutze jede Gelegenheit, um Jiddisch zu singen, weil ich es liebe", betont sie und lächelt.

Die 38-Jährige erinnert die Sprache an ihre Kindheit in St. Petersburg, dem damaligen Leningrad. Da Religionen in der Sowjetunion verboten waren und jüdisch als ethnische Zugehörigkeit galt, hätten vor allem die Lieder, die sie mit ihren Großeltern verbinde, Kultur transportiert. "Wir singen mit Freude über leidige Geschichten des Lebens. Ich glaube, das ist typisch jüdisch", so Diana Liberovas Einschätzung. Wenn sie heute vor Publikum steht, will sie zeigen, dass es in Deutschland eine moderne jüdische Kultur gibt.

Für Diana Liberova selbst und ihre Familie spielt die Religion eine wichtige Rolle. Sie geht mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in die Synagoge, hält sich an die Essensvorschriften. Im Großen und Ganzen fühlt sie sich in Deutschland sicher - auch nach dem Attentat von Halle. Dort hatte ein Rechtsextremist diesen Oktober versucht, in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen. Es misslang ihm, auf seiner Flucht erschoss er zwei unbeteiligte Menschen. Nur manchmal, wenn Rechte in der Stadt aufmarschieren, steigt ein mulmiges Gefühl in Diana Liberova hoch.

Antisemitismus gibt es nach wie vor in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Für Diana Liberova ist das mit ein Anreiz, sich zu engagieren. Schon während ihres Studiums war sie im Ausländerbeirat, seit 2014 sitzt sie für die SPD im Nürnberger Stadtrat.

Davids Botschaft: "Ich bin Jude - und ein ganz normaler Mensch"

Mitglied eines politischen Gremiums ist David Weissmann nicht. Dennoch liegt dem 19-jährigen Münchner viel daran, jüdisches Leben sichtbar zu machen. Deswegen beteiligt er sich beispielsweise an Likrat, einem Dialogprojekt, bei dem Juden mit Schulklassen ins Gespräch kommen. Seine Botschaft lautet: "Ich bin Jude - und ein ganz normaler Mensch." Seinen Freunden sei das sowieso klar. Am Anfang hätten sie sich zwar gewundert, dass Cheeseburger wegen der Kaschrut für ihn tabu seien und er am Sabbat nicht U-Bahn oder Fahrrad fahre. Da David aber offen über seinen Glauben spricht und ihn erläutert, haben die Irritationen bald nachgelassen.

Dass er seine Kippa im Alltag unter einer Kappe versteckt, sei Prävention. "In Deutschland ist mir bisher nie etwas passiert, in Georgien schon." Diesen Sommer hat er sich in Tiflis mit einer Gruppe jüdischer Jugendlicher auf den Weg zur Synagoge gemacht. Die Kippa auf dem Kopf, Gebetsbücher in der Hand. "Da kam ein Mann und hat gefragt, ob er uns die Thora abkaufen könne. Schließlich müsse man seine Feinde kennen. Danach hat er uns vorgeworfen, wir hätten den Zaren auf dem Gewissen und seinen Gott getötet", erinnert sich David.

Er senkt den Blick, der Schreck scheint immer noch tief zu sitzen. Die Kippa sei für jüdische Männer übrigens ein Zeichen, dass man an Gott denken soll. Frauen hätten das nicht nötig. "Männer sind wie ein Knopftelefon, das eine Antenne braucht. Frauen sind Smartphones, die schon alles integriert haben." Eine Erklärung, bei der man sich nicht wundert, dass David Informatik studiert.

Die Erklärung zu allen Wörtern, die im Text gefettet sind, findest du hier.

Interview: Wie antisemitisch ist Deutschland?

Dr. Sina Arnold, Expertin zum Thema Antisemitismus. Foto: Ute Langkafel Maifoto

Sozialwissenschaftlerin Dr. Sina Arnold erklärt, woher die Vorurteile gegen Juden kommen und was man dagegen tun kann.

Frau Dr. Arnold, in den vergangenen Jahren ist die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland laut der "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus" gestiegen. Woran liegt das?

Dr. Sina Arnold: Ein Grund dafür ist, dass wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Tabubruch auf vielen Ebenen zu tun haben. Wenn man sich anschaut, welche Rolle der Antisemitismus (Die Erklärung zu allen Wörtern, die im Text gefettet sind, findest du hier) für rechte Gruppen und Parteien wie die AfD spielt, kann man sehen, dass es eine höhere Akzeptanz von völkischem Denken und wieder stärker werdendem Nationalismus gibt. Da ist der Antisemitismus natürlich nicht weit.

Wie funktioniert das bei der AfD? Einerseits greift sie völkische Ideologien auf, andererseits inszeniert sie sich als Schützerin der Juden in Deutschland.

Dr. Sina Arnold: Das Zentrale ist die Instrumentalisierung des Antisemitismus. Das sichtbarere und vor allem gesellschaftlich akzeptiertere Feindbild der AfD sind Muslime. Gegen die wird das christlich-jüdische Abendland in Stellung gebracht - und die Juden werden vereinnahmt. Wenn man hinter die offiziellen Verlautbarungen schaut, findet man offen antisemitische Äußerungen von AfD-Mitgliedern. Aber auch bei offiziellen Statements ist Geschichtsrevisionismus beziehungsweise eine Erinnerungs- und Schuldabwehr gegenüber dem Holocaust sichtbar. Ich finde es deswegen perfide, dass die AfD so tut, als sei sie die einzige Partei, die den Antisemitismus ernst nimmt.

Wenn man sich die Zahlen ansieht, spielen Muslime bei antisemitischen Übergriffen in Deutschland aber kaum eine Rolle?

Dr. Sina Arnold: Laut Polizeistatistiken haben 95 Prozent der Straftaten einen rechtsextremen Hintergrund. Damit muss man allerdings kritisch umgehen, weil die Zuordnungspraxis erst einmal nicht so viel über die Täter aussagt. Das heißt, wenn auf einer Kundgebung der Hisbollah der Hitlergruß gezeigt wird, wird das teilweise als rechtsextrem klassifiziert. Ich denke allerdings, selbst wenn man diese Zahl korrigiert und ein paar Prozentpunkte abzieht, bleibt sie doch ein Anzeichen dafür, wie gefährlich der Antisemitismus von rechts ist. Aber er findet sich in vielen gesellschaftlichen Milieus - und natürlich auch bei Menschen mit muslimischem Hintergrund.

Finden sich auch in der Mitte der Gesellschaft antisemitische Strömungen?

Dr. Sina Arnold: Langzeitstudien kommen wiederholt zu dem Ergebnis, dass bis zu 30 Prozent der Bevölkerung antisemitischen Aussagen unterschiedlicher Art zustimmen. Der israelbezogene Antisemitismus ist besonders hoch. All das verweist darauf, dass es einen antisemitischen Bodensatz gibt. Manchmal wird der Antisemitismus als bewegliches Vorurteil beschrieben, das sich an weltpolitische Gegebenheiten sehr gut anpassen kann. Er hat, wenn man so will, einen Welterklärungsanspruch. Und oft argumentiert er verschwörungstheoretisch - die Juden haben viel Macht, sie beherrschen die Politik und Medien und so weiter. Das ist ungemein attraktiv, weil dadurch vermeintlich erklärt wird, warum Sachen schieflaufen.

Hat das möglicherweise damit zu tun, dass wir zu wenig über die Geschichte der Juden in Deutschland und den Holocaust informiert sind?

Dr. Sina Arnold: Es gibt tatsächlich ein Wissensdefizit zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Mehr als 40 Prozent der Schüler über 14 Jahre wissen nicht, was Auschwitz-Birkenau ist. Das liegt daran, dass der Holocaust gar nicht so viel durchgenommen wird, wie man denkt. Und auch daran, dass die Lehrer oft nicht ausreichend ausgebildet sind. Im Lehramtsstudium werden nur an einigen wenigen Universitäten Seminare angeboten, die sich konkret mit der Schoah auseinandersetzen. Wir müssen aufpassen, dass uns diese Geschichte nicht verlorengeht und angemessen vermittelt wird.

Was kann man gegen Antisemitismus tun?

Dr. Sina Arnold: Man muss anerkennen, dass es in der Präventions- oder Solidaritätsarbeit Sachen gibt, die gut laufen. Man weiß ja nicht, ob das Ausmaß des Antisemitismus noch größer wäre, wenn es nicht bestimmte Programme und Projekte gäbe. Dazu gehören die Einrichtung von Antisemitismusbeauftragten auf Bundes- und Länderebene, jüdisch-muslimische Dialogprojekte oder Demonstrationen und Aktionen gegen rechts, die sowohl Antisemitismus als auch Rassismus zur Sprache bringen. Zentral ist meiner Meinung nach Bildungsarbeit. Da existieren auf außerschulischer Ebene sehr gute Einrichtungen wie das Anne Frank Zentrum, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, das Haus der Wannseekonferenz und viele weitere. Wichtig ist, dass hier die finanzielle Förderung nicht gekürzt wird.

Die Erklärung zu allen Wörtern, die im Text gefettet sind, findest du hier.

Ein paar wichtige Begriffe - einfach erklärt

Antisemitismus: Abneigung oder Feindschaft gegenüber Juden.

Geschichtsrevisionismus: Der Versuch, ein wissenschaftlich, politisch und gesellschaftlich anerkanntes Geschichtsbild zu verändern. Das geschieht, indem bestimmte Ereignisse wesentlich anders als in der aktuellen Geschichtswissenschaft dargestellt werden.

Hisbollah: Muslimische Gruppe, die gegen Israel kämpft.

Holocaust: Verfolgung, Gettoisierung und insbesondere Massenvernichtung der Juden in Deutschland und Europa zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Instrumentalisierung: Missbräuchliche Nutzbarmachung für die eigenen Ziele.

Israel: Staat am Mittelmeer. Dieser wurde 1948 gegründet und ist zu drei Vierteln von Juden bewohnt.

Jiddisch: Von osteuropäischen Juden gesprochene und mit hebräischen Schriftzeichen geschriebene Sprache, deren Wortschatz sich aus mittelhochdeutschen, hebräisch-aramäischen und slawischen Elementen zusammensetzt.

Kaschrut: Jüdische Speisegesetze. Diese beziehen sich auf die Zubereitung, Lagerung und den Genuss von Lebensmitteln sowie die Schlachtung der zum Verzehr bestimmten Tiere. Was nach der Kaschrut gegessen werden darf, wird als koscher bezeichnet. Koschere Tiere sind zum Beispiel Kühe und Schafe. Sie müssen nach bestimmten Vorgaben geschächtet (rituell geschlachtet) werden. Schweine gelten als nicht koscher. Tiere, die im Wasser leben, müssen Flossen und Schuppen haben, um gegessen werden zu dürfen. Eine andere Regel bezieht sich auf Milch und Fleisch. In der Thora steht, dass das Böcklein nicht in der Milch der Mutter gekocht werden soll. Auf diesem Gebot beruht die Vorschrift, Milch und Fleisch nicht zusammen zu lagern, zuzubereiten und zu essen.

Kippa: Kleine, flache Kopfbedeckung der jüdischen Männer, die während religiöser Handlungen getragen wird.

Klezmer: Aus Osteuropa stammende traditionelle jüdische Instrumentalmusik.

KZ (Konzentrationslager): Lager, in denen Gegner des nationalsozialistischen Regimes sowie Angehörige der von den Nationalsozialisten als minderwertig erachteten Völker und andere nicht erwünschte Personengruppen in grausamer Weise unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen gehalten und in großer Zahl ermordet wurden.

Rabbi: Geistliches Oberhaupt einer jüdischen Gemeinde. Sabbat: Im Judentum geheiligter, von Freitagabend bis Samstagabend dauernder Ruhetag, der mit bestimmten Ritualen begangen wird.

Schoah: Anderes Wort für Holocaust.

SS (Schutzstaffel): Die mächtigste nationalsozialistische Organisation. Sie war im Wesentlichen für den Völkermord an den Juden sowie für viele Kriegsverbrechen verantwortlich.

Synagoge: Gebäude, in dem sich die jüdische Gemeinde zu Gebet und Belehrung versammelt.

Thora: Einer von drei Teilen der jüdischen Bibel. Das hebräische Wort bedeutet Lehre oder Gesetz.