Thema Hilfsbereitschaft
Ein guter Tag – Eine Kurzgeschichte von Annalena Leitermann
14. April 2024, 6:00 Uhr
Die Sonne scheint vom Himmel herab, versorgt mich nach den endlosen trübgrauen Tagen wieder mit Vitamin D und ich habe alles geschafft, was ich mir für den heutigen Tag vorgenommen habe. Ich bin frühmorgens um Viertel nach fünf aufgestanden, habe aufgeräumt, geputzt, einen Kuchen gebacken und den Garten ein wenig aufgeräumt. Ein gutes Gefühl durchströmt meinen Körper, Zufriedenheit breitet sich in mir aus und ich bin einfach in guter Stimmung, nichts kann meine Laune verderben. Einfach toll.
Um den Tag ausklingen zu lassen, plane ich einen abendlichen Spaziergang. Wie es der Zufall will, greife ich, bevor ich meine Jacke überziehe, an meinen Hals. Meine Kette fehlt. Wo habe ich sie hingelegt? Weit kann sie normalerweise nicht sein, nur im Bad und in der Nacht lege ich sie ab. Ich suche alle Orte ab, aber nirgends kann ich sie finden. Ich überlege und überlege. Habe ich sie vielleicht gestern auf meiner abendlichen Runde verloren? Aber wie kann sie mit Pullover und Jacke runterfallen? Im Normalfall unmöglich.
Bevor ich aber noch mehr Zeit in die Suche investiere, möchte ich lieber mit meinem Spaziergang starten. Man sollte die Zeit, die man hat, sinnvoll nutzen. Die Suche nach der Kette bringt mich jetzt auch nicht weiter, gefunden habe ich sie in den vergangenen 15 Minuten schließlich nicht. Lieber mache ich derweilen was anderes. Ich ziehe meine Jacke drüber, lege ein Stirnband an und beginne meine Runde. Die letzten Sonnenstrahlen erwärmen mein Gesicht. Es tut richtig gut.
Wenn man auf dem Land spazieren geht, begegnen einem immer wieder Menschen. So auch heute. Die meisten grüßt man freundlich und hebt kurz die Hand oder man nickt dem anderen höflich zu. Dennoch teilen sich die Wege schnell wieder. Heute scheint es aber eine Ausnahme zu geben. Ludwig, ein älterer Herr, körperlich weit über achtzig Jahre alt, geistig aber noch recht jung, gesellt sich zu mir. Ich verlangsame meinen Gang, damit ich mich an seine Geschwindigkeit anpasse.
„Grüß dich, Ludwig, na, wie geht’s dir? Ich habe dich lange nicht mehr spazieren gehen sehen. Hab dich schon ein bisschen vermisst“, gestehe ich ihm.
„Ich wünsche dir auch einen schönen Tag, Sophie! Mir geht es gut, nur meinen Freund Karl hat es erwischt. Kurz nach seinem 78. Geburtstag ist er hingefallen und ins Krankenhaus gekommen. Jetzt ist er im Pflegeheim, aber ihm geht es soweit gut. Er ist auch wieder auf den Beinen und unterhält die ganzen Leute im Heim. Weißt schon, so als alter Musikant.“
„Ach, das ist ja schlimm. Wenigstens geht’s ihm schon wieder besser. Aber ihr beide wart doch immer unzertrennlich, vor allem sonntags immer unterwegs, seid ein wenig spazieren gegangen oder in ein Café gefahren. Schade, wie schnell sich das Leben ändern kann“, teile ich mein Mitgefühl. Soweit ich mich erinnern kann, gab es die beiden nur im Doppelpack.
„Ja, das Leben hat sich ziemlich verändert. Zwar besuche ich ihn im Heim, doch es ist nicht mehr wie vorher. Nach seinem Sturz hat er ziemlich abgebaut, aber er hat sich doch recht schnell mit seinem neuen Alltag abgefunden. Ihm geht es damit recht gut. Nur mir fehlt er jetzt. Ich bin bei meinen ganzen Unternehmungen alleine. Das bin ich gar nicht gewohnt. Alleine am Tisch sitzen, alleine Kaffee trinken. Jetzt hört mir auch niemand mehr zu.“
Es ist schon traurig, wie sehr Ludwig die ganze Lage trifft, dennoch finde ich es gut, dass er sein Leid und seine Sorgen teilt. Ich kenne ihn nun doch schon einige Jahre. Normalerweise ist Ludwig ein sehr positiv gestimmter Mensch, hat immer ein Lächeln im Gesicht und begegnet jedem Tag mit einer Leichtigkeit, um die ich ihn manchmal beneide.
„Du, Ludwig, ich kann dich verstehen. Wenn du mal jemanden brauchst, der dir zuhört, ruf an oder komm einfach mal auf einen Kaffee vorbei. Nur mach dir keine Sorgen, für jedes Problem findet sich eine Lösung. Manchmal schneller, als man meint. Ich muss jetzt leider weiter, muss noch einiges erledigen. Man sieht sich!“
Eigentlich wollte ich mich nicht so schnell verabschieden, aber ich habe eine wirklich blendende Idee. Ich schalte eine Annonce in der örtlichen Tageszeitung für ihn. Ein bisschen Hilfe zur Selbsthilfe. Es wird bestimmt mehrere Senioren geben, die Sonntagnachmittag einen kleinen Ausflug unternehmen wollen, aber niemanden haben, mit dem sie einen Nachmittag verbringen können.
So kommt es, dass ich in den nächsten Tagen einen Beitrag in der örtlichen Tageszeitung für Ludwig aufgebe, in der Hoffnung, dass sich jemand meldet. Tatsächlich gehen drei Zuschriften ein. Ich drucke die einzelnen Vorstellungen aus und übergebe sie an Ludwig, mit der Bitte, dass er mal einen Blick darauf wirft. Ansonsten kann er verfahren, wie er möchte. Trotzdem bin ich gespannt, ob er darauf reagiert oder nicht.
Einige Wochen später treffe ich ihn wieder bei einem Spaziergang, diesmal in Begleitung eines älteren Herrn, mit dem er ausschweifend diskutiert. Es ist immer wieder schön, ihm beim Reden zuzuschauen, da er dabei stets wie wild ausholt, in Gestik und Worten.
„Hallo, Sophie, ich muss mich bei dir bedanken. Es hat sich bei deiner Annonce tatsächlich jemand gefunden. Ich danke dir recht herzlich“, er nimmt meine Hand und drückt sie fest.
„Das habe ich doch gerne gemacht, Ludwig“, sage ich lächelnd darauf.
Es ist schön, dass ich etwas für ihn bewirken konnte.
An diesem Tag finde ich auch meine Kette wieder. Sie lag unter meiner Garderobe im Gang. Der Verschluss ist kaputt und die Kette hat sich vor einiger Zeit wohl von selbst gelöst. Wenigstens ist sie nun wieder da, mit ihr verbinde ich wertvolle Erinnerungen an meine Großmutter. Von ihr habe ich gelernt, dass man aus jedem Tag einen guten Tag machen kann. Dies versuche ich nun täglich zu verkörpern und die kleinen Dinge zu schätzen. Man weiß nämlich nie, was der nächste Tag mit sich bringt.