Experimente ohne Notendruck
Im "KUNSTbeTRIEB" in Cham gehen Jugendliche ihren Weg
5. November 2013, 16:34 Uhr aktualisiert am 5. November 2013, 16:34 Uhr
"Die Angst vor dem Unbekannten." - So antwortete der 13-jährige Michael auf die Frage, was ihn in einer Kunstschule erwarte. Angst, Kunst nicht zu verstehen, Angst, nicht begabt zu sein, Angst, sich mit etwas zu beschäftigen, was die Menschen gar nicht brauchen. Wozu brauchst du später Kunst? Warum wählst du Kunst, mach halt was "Gescheites"? Jugendliche, die den Kunstzweig einschlagen, werden oft belächelt, haben mit Vorurteilen zu kämpfen. Doch Andi Dünne, der Leiter der Kinder- und Jugendkunstschule in Cham, "KUNSTbeTRIEB", stellt eine ganz andere Frage: Warum beschäftigen sich nicht viel mehr Menschen mit der Kunst? Der Mann mit den Rastazöpfen möchte den jungen Menschen Mut zusprechen, Neues auszuprobieren, dabei zu scheitern und wieder von vorne loszulegen. Scheitern in der Schule bedeutet eine schlechte Note, Scheitern in der Kunst bietet die Möglichkeit für einen Neubeginn.
Die Kunstschule in Cham ist eine von nur 23 zertifizierten Einrichtungen dieser Art in Bayern. Gegründet hat sie vor sieben Jahren Andi Dünne, ein Idealist durch und durch. Eine Familie könnte er mit seiner Arbeit nicht ernähren, am Ende des Monats steht wirtschaftlich gesehen unter dem Strich immer eine Null. Doch Andi Dünne sieht unter dem Strich etwas ganz anderes: "Da stehen die Dinge, die man sich nicht kaufen kann!" Kinder, die sich tagelang auf den nächsten Andi-Dünne-Tag freuen, Jugendliche, die die Aufnahmeprüfung für die Kunst-FOS, für ihr Architekturstudium oder für ihr Mode- oder Grafikdesignstudium geschafft haben, kurz: Kinder und Jugendliche, denen er geholfen hat, ihren Weg zu gehen.
In seinem "KUNSTbeTRIEB" sollen die Schüler die Unterstützung genießen, die Andi Dünne nie bekommen hat. Seine Eltern haben seine Begabung weder erkannt noch gefördert. Die Kinder und Jugendlichen dürfen sich ausprobieren, es gibt kein Richtig oder Falsch. Sie lernen die unterschiedlichsten Materialien und Techniken kennen, von Malerei, Druckgrafik und Mischtechniken bis hin zu Holzarbeiten und Bildhauerei. Erstaunlich, was schon die Jüngsten ab drei Jahren schaffen, wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, etwas auszuprobieren.
"Wir haben das Konzept, ohne Konzept zu sein"
Gerade hier sieht Andi Dünne die Aufgabe seiner Kunstschule: "Wir haben das Konzept, ohne Konzept zu sein. Wir dürfen machen, was wir wollen, und diese Freiheit genießen die Schüler." Sie dürfen mit ihrem Wissen experimentieren, sie dürfen Ideen entwickeln und sie dürfen vor allem scheitern, um wieder etwas Neues auszuprobieren. Diese Fähigkeiten, Wissen anzuwenden, Wissen zu übertragen, mit neuen Situationen umzugehen, Lösungen für ein kniffeliges Problem zu finden, seien in der Arbeitswelt gefragt. "Kunst ist Fortschritt!"
"Ich muss nicht Künstler werden, wenn ich eine Kunstschule besuche," stellt Andi Dünne klar. Die Kunst vermittle Fähigkeiten, die in alle Berufsbereiche hineinspielen, so seine Überzeugung. Immer wieder bekomme er von seinen Schülern zu hören: "Das kann ich nicht, das habe ich noch nicht gelernt!" In der Kunstschule liege der Reiz gerade in dem Unbekannten. Für Andi Dünne bedeutet Kunst, "eigene Lösungen zu finden, eigene Meinungen zu vertreten, seine Wahrnehmung zu schulen und den Blick für das Schöne zu bekommen".
Bis zu 1 200 Zeichnungen für die eigene Mappe
Dies gelingt vor allem in den "Mappenkursen", dem Steckenpferd des "KUNSTbeTRIEBs". Über neun Monate, jeweils zweimal die Woche, wird den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, ihre künstlerischen und gestalterischen Fähigkeiten in einer Sammlung von Arbeiten zum Ausdruck zu bringen. Dieser Nachweis wird für die Zulassung an einer Hochschule oder Akademie vorausgesetzt. Andi Dünne ist stolz darauf, dass jedes Jahr 95 Prozent seiner "Mappenschüler" die Aufnahmeprüfung schaffen.
Ausgelegt ist dieser Mappenkurs vor allem auf das Zeichnen. Die Zeichnung, so die Überzeugung Dünnes, ist auch im Zeitalter des Computers immer noch die einfachste und schnellste Möglichkeit, seine Idee zu visualisieren und dem Kunden zu präsentieren, egal ob es ein Kleidungsstück ist oder ein Bauwerk. In den neun Monaten schafft der Fleißigste bis zu 1 200 Zeichnungen. Auch Dünnes Privatsammlung an literarischen Werken ist auf die Zeichnung ausgelegt. Auf insgesamt 3 500 Bände können die Schüler in der Bibliothek zurückgreifen.
Andi Dünne: "Was leiste ich für die Gesellschaft?"
Die Jugendlichen, die teilweise weite Anfahrten in Kauf nehmen, schätzen diesen Fundus und sie schätzen das Engagement ihres Lehrers. So zum Beispiel Michael, Andi Dünnes erster Schüler. 2007 kommt der damals Zwölfjährige in den "KUNSTbeTRIEB". Er ist der Einzige. Aus wirtschaftlichen Gründen hätte der Kurs nicht stattfinden dürfen. Doch Andi Dünne denkt nicht wirtschaftlich. Er gibt Michael Einzelunterricht, bietet ihm den Raum, zum Experimentieren. Heute, Michael geht inzwischen an die FOS, besucht er den Mappenkurs, später möchte er studieren. Für eine Richtung hat er sich noch nicht festgelegt, doch "Michael wird seinen Weg machen. Es ist eine Freude zu sehen, dass man etwas verändert hat", so Dünne. Von vielen seiner Schüler bekommt Andi Dünne die Rückmeldung, dass sie dank des Mappenkurses im Studium die Nase immer ein Stück vorne gehabt haben. Hierin sieht er seine Motivation. "Wesentlich ist doch die Frage, was leiste ich für den Menschen und für die Gesellschaft und nicht wie viel Profit mache ich!"
Michael hat inzwischen die Angst vor dem Unbekannten verloren, gibt seine ersten eigenen Kurse im "KUNSTbeTRIEB". Er hat sich Andi Dünnes Worte zu Herzen genommen: "Glaubt an euch und vergesst nicht: Kunst ist immer anstrengend."