Schülerin gewinnt Literaturwettbewerb
Siegergeschichte "Kein Krieg mehr" von Angelina Schmid
5. August 2022, 6:00 Uhr aktualisiert am 5. August 2022, 6:00 Uhr
Ein Medikament, das eine Pandemie beendet. Eine Fabrik, die kein CO2 ausstößt, sondern es einsaugt. Das Perpetuum mobile. Eine Friedenspille. Eine Zeitmaschine. Die Weltrettungsformel. Unter diesem Motto stand der Literaturwettbewerb des Johannes-Turmair- Gymnasiums in Straubing. Wir stellen in dieser Ausgabe die Siegergeschichte "Kein Krieg mehr" von Angelina Schmid vor.
Der Klimawandel ist trotz des Ersatzes von Abgas- mit Wasserstoffautomobilen weiter fortgeschritten. Während in einigen Gebieten die Grundwasservorräte angezapft werden müssen, um das Überleben der dortigen Bevölkerung zu sichern, sind anderorts ganze Landstriche überschwemmt. Dazu zählt auch die Ukraine, die im Juni 2052 von einem brachialen Hurrikan heimgesucht wird. Stundenlang kann niemand das Haus verlassen, überall weist das Internet Störungen auf. Und so ist es nicht verwunderlich, dass der achtjährige Danylo seinen Großvater Yegor aus Langeweile bittet, ihm eine Geschichte zu erzählen.
"Was willst du denn hören, Kleiner?", brummt Yegor von seinem Schaukelstuhl aus, über und über mit einem roten Wollberg bedeckt, der eines Tages einen Schal ergeben soll.
"Hast du schon mal sowas erlebt damals, als du noch jung warst?", fragt Danylo mit erwartungsvoll glänzenden Augen. "Sowas Schlimmes. Weil ihr alten Leute sagt doch immer, früher sei alles besser gewesen."
"‚Dieser Krieg da' war im Frühjahr 2022"
Sein Großvater lacht. "Habe ich jemals so etwas behauptet? Ich weiß noch, einmal war es nicht sicher, ob es die Ukraine in ein paar Wochen überhaupt noch geben würde."
"Wegen diesem Krieg da, oder? Da war mal was in die Richtung im Fernsehen …"
Yegor neigt sein schlohweißes Greisenhaupt. "‚Dieser Krieg da' war im Frühjahr 2022. Da hat der damalige russische Präsident Putin beschlossen, unser Land einzunehmen. Aber wir haben dieses Vorhaben vereitelt." Stolz streicht Yegor über den Scheitel seines Enkels, der kurzerhand beschlossen hat, das monströse Strickprojekt seines Großvaters als Decke zu benutzen. "Wie denn? Erzähl!"
"Die Ukraine war Russland in vielen Dingen unterlegen. Wir hatten weniger Waffen, weniger Soldaten, doch von einem hatten wir mehr als Russland: Zusammenhalt. Wir wollten unser Land nicht einfach so, so völlig kampflos aufgeben. Obwohl der Krieg für uns verloren schien, haben wir unermüdlich gekämpft und gelitten. Der Dauerbeschuss, die Panik der Menschen, die Sehnsucht nach deiner Großmutter und deinem Vater … all das hat sich wie Säure in mein Gedächtnis geätzt.
In Bunkern den schlimmsten Ängsten ins Auge sehen
Aber selbst mit der militärischen Unterstützung, die wir von anderen westlichen Ländern erfuhren, stand es schlecht um uns. Unschuldige Zivilisten kamen ums Leben, ganze Metropolen wurden in Schutt und Asche gelegt. Die Menschen, die nicht mehr rechtzeitig fliehen konnten, mussten in den Bunkern ihren schlimmsten Ängsten ins Auge sehen. Sogar in Russland gab es Protest gegen den Krieg, doch man raubte diesen Menschen die Stimme, indem man sie ins Gefängnis sperrte. Andere glaubten jedoch der russischen Propaganda, man wolle die Ukraine von der Herrschaft angeblicher Nationalsozialisten befreien.
Freischreiben-Autor Michael Bankmann hat ebenfalls bei dem Literaturwettbewerb des Johannes-Turmair-Gymnasiums gewonnen. Seine Siegergeschichte findet ihr hier:
Es musste etwas geschehen. Etwas, das selbst denen, die die ‚militärische Spezialoperation' für richtig hielten, die Augen öffnete. Zum Glück hatten wir einen Professor auf unserer Seite, der die Herstellung von Waffen verstand."
"Aber hast du nicht vorhin gesagt, ihr hättet weniger Waffen gehabt?", hakt Danylo nach.
"Als Soldat lehrt man dich, stolz auf Kriegsverletzungen zu sein"
"Das stimmt, doch nicht die Art von Waffen, an die du gerade denkst und die auch wir uns zunächst erhofften. Maschinengewehre, Panzer, Bomben, all das ist blindwütige Zerstörung von Leben und Lebensraum. Die Waffen dieses Professors verletzten jedoch niemanden, zumindest nicht körperlich. Keiner von uns wollte kämpfen oder zerstören, musst du wissen. Wir wollten nur unser Land und unsere Familien schützen. Dennoch glaubten wir ebenso wenig wie du in diesem Moment, dass solche - gewaltlose - Waffen uns irgendwie helfen könnten. Vielleicht waren sie allerdings gerade deshalb so gefährlich: Als Soldat lehrt man dich, stolz auf deine Kriegsverletzungen zu sein, denn sie zeigen, dass du ein Diener des größeren Wohls bist. Niemand bereitet dich darauf vor, wie es ist, das Ausmaß seiner Taten mit einem Mal zu begreifen und plötzlich nicht mehr zu wissen, wofür sich dieses Leid eigentlich gelohnt hat."
Da verschwimmt das gemütliche Zimmer vor Yegors Augen zu einem unscharfen Wirbel aus Farben und Formen. Als sie wieder Gestalt annehmen, befindet er sich in Odessa. Aus den umliegenden, einst so stolzen Häuserriesen klaffen nun wundenartige Löcher, mit Fassaden, schwarz wie abgestorbene Gliedmaßen. Bauschige, graue Rauchwolken schwindeln den Abendhimmel hinauf, wo Bomben eingeschlagen haben. Schüsse schallen durch die Häuserschluchten, unterbrochen von barschen Kommandos. Eine klebrig schwarze Pechwelle der Angst, gespeist von gespensterhaftem Weinen und geplagten Schreien, droht, die Stadt zu überrollen.
Direkt vor Yegor steht ein onyxfarbenes, riesiges Stahlobjekt. Ein Panzer. Nur ein Detail stört das Gesamtbild: der breite Bildschirm, der oben aus der Kommandantenluke ragt, wodurch die Maschine an einen überdimensionierten Roboter erinnert. Die Maschine des Professors, der Soulsavior. Yegor stellt fest, dass sein 40-jähriges Ich einen Eimer voll DVDs in der Hand hält. Aufnahmen von Menschen, erschossen, verletzt oder unter den Trümmern ihrer Häuser begraben, weinende Kinder, schreiende Säuglinge, die Geschichten hinter der Zahl Tausender Opfer. Ein Eimer voller Erinnerungen an den Schmerz der Ukrainer.
Ein Stich fährt Yegor in die Eingeweide. Hastig kippt er die DVDs in den Munitionsbehälter des Soulsaviors. Die Maschine gibt ein Zischen von sich, dann erscheint auf dem Bildschirm flackernd die erste Aufnahme. Eine Wohnung kommt ins Bild, hell, bescheiden eingerichtet, mit einem schimmernden schwarzen Flügel in der Ecke. Darauf spielt eine Frau, ihre Finger tanzen über die Tasten. Die lebhafte, fröhliche Klaviermelodie erhellt den Raum und schwebt durch die geöffnete Balkontür hinaus in die Welt. Da durchzuckt ein zylinderförmiges Objekt das endlose Grau des Himmels, begleitet von einem Sirren.
Ein kurzer, grauenerregender Schrei dröhnt
Unter einem ohrenbetäubenden Aufprall verwandelt die Bombe das Wohnzimmer binnen Sekunden in eine alles verzehrende Flammenhölle. Das Klavierspiel verstummt abrupt. Nur ein kurzer, grauenerregender Schrei dröhnt, lauter noch als die Kugelsalven, aus der Glattrohrkanone des Soulsaviors.
Ein paar Soldaten heben verwirrt die Köpfe und schleichen geduckt näher, um die Lage zu sondieren. Vor dem Bildschirm bleiben sie stehen, die Finger am Abzug ihrer Gewehre. Zwar ist der Soulsavior stabil genug, um Angriffen standzuhalten, aber dass bis jetzt niemand feindselig reagiert, scheint Yegor ein gutes Omen.
"Sag doch was, Papa!", fleht sie den Toten an
Das nächste Video flimmert über den Monitor. Zu sehen ist diesmal eine Straße, gesäumt von etwa zwanzig reglosen Körpern. Über einem davon kauert ein Mädchen, das von heftigen Schluchzern geschüttelt wird. "Sag doch was, Papa!", fleht sie den Toten an und rüttelt verzweifelt an ihm. Auf seiner Brust liegt ein verwaschener Stoffbär. "Du musst mir und Bärli doch noch ein Gute-Nacht-Lied singen."
Yegor treten bittere Tränen in die Augen. Erst nach und nach nimmt er wahr, wie die Soldaten, einer nach dem anderen, die Gewehre sinken lassen. Einer kniet sich sogar auf den von der Explosion staubigen Asphalt, stumm vor Entsetzen. Yegor kann seinen Augen nicht trauen, als immer mehr Soldaten dem Beispiel ihres Kameraden folgen.
"War euer Souldings also quasi der Auslöser für einen Streik?", fragt eine Kinderstimme. Unwillkürlich wird Yegor in die Realität zurückkatapultiert: Er sitzt in seinem warmen, unzerstörten Wohnzimmer und erzählt seinem Enkel eine Geschichte. Wenn es denn nur eine Geschichte wäre …
"Ich würde es eher als Rebellion bezeichnen, aber du hast natürlich recht", antwortet er. "Was an diesem Tag und noch so manchem weiteren geschah, hat uns unser Leben zurückgebracht. Keine Kämpfe. Keine getrennten Familien. Kein Krieg mehr."
Hinweis: Dieser Text stammt aus der Freistunde, der Kinder-, Jugend- und Schulredaktion der Mediengruppe Attenkofer. Für die Freistunde schreiben auch LeserInnen, die Freischreiben-AutorInnen. Mehr zur Freistunde unter freistunde.bayern.