Freistunde
Waldorfschule - Hokuspokus oder Alternative?
13. September 2019, 10:21 Uhr aktualisiert am 13. September 2019, 10:21 Uhr
100 Jahre Waldorfschule: Ein Wissenschaftler, ein Absolvent und ein Erstklässler mit seiner Mutter erzählen, was sie von Rudolf Steiners Konzept halten.
Ein helles Zimmer. Auf einem Holzschränkchen ein Strauß Frühlingsblumen, an der Wand bunte Aquarellbilder. Durch das halbgeöffnete Fenster ist Vogelgezwitscher zu hören. In einem Stuhlkreis sitzen 18 Landshuter Erstklässler mit ihrer Englischlehrerin Dominika Aslam. Ein Mädchen schaut verträumt nach draußen ins Grüne. Die anderen haben ihren Blick auf die Waldorfpädagogin gerichtet. "Flowers are growing up so high", sagt diese. "Birds are flying in the sky." Ihre mittelbraunen Haare sind zu einem lockeren Zopf geflochten. Er bewegt sich rhythmisch im Takt des Gedichts, das sie mit klarer Stimme vorträgt und mit den Kindern mehrmals wiederholt.
Diese Szene aus dem April 2019 führt einen wichtigen Aspekt von Rudolf Steiners Ansatz vor Augen: Die künstlerische Vermittlung von Wissen. Für Dr. Sebastian Suggate vom Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Regensburg zählt das zu den Vorteilen des Waldorfkonzepts. Neben einem entwicklungsgerechten und vielfältigen Lehrplan, der Handarbeit, Sport und Musik.
Positiv schätzt der Psychologe außerdem das sogenannte Klassenlehrer-Prinzip ein: "Idealerweise haben die Kinder in den ersten acht Jahren den gleichen Klassenlehrer. Der kennt sie dann wirklich gut und wird zum Ansprechpartner für die Eltern, wenn es Probleme gibt."
Kritisch bewertet er jedoch den Lehrermangel, der in Waldorf-Einrichtungen wegen der notwendigen Zusatzausbildung noch stärker ausgeprägt sei als an Regelschulen. Zudem seien viele Waldorfpädagogen neben dem Unterricht als Mentoren für neue Kollegen tätig. Das erhöhe den Stress und könne auf Dauer zu einer ernsthaften Belastung werden.
Dr. Suggate beschäftigt sich nicht nur wissenschaftlich mit Waldorf, er hat auch einen persönlichen Bezug. "Drei meiner vier Töchter gehen auf die Waldorfschule in Regensburg", erzählt der gebürtige Neuseeländer. Er selbst hat dort ein halbes Jahr Französisch unterrichtet und im Beirat des Vorstands. Aufgrund dieser Erfahrungen weiß er, dass die Schulgründung und -führung für alle Beteiligten auch eine organisatorische Herausforderung ist. "Viele Waldorfschulen werden auf Elterninitiative gegründet. Meistens gibt es verschiedene Arbeitskreise. Man muss ständig bauen. Die Finanzen müssen geregelt werden. Man muss sicherstellen, dass Kinder aus weniger wohlhabenden Familien nicht ausgeschlossen werden. Das alles unter einen Hut zu bekommen, ist richtig viel Arbeit", sagt er.
Eurythmie? "Klar ist das speziell."
Seinen Namen tanzen will Paul Kloker nicht. Das ist ihm zu klischeehaft. Der 24-jährige Mechatronik-Student aus Schondorf am Ammersee, einem Dorf 40 Kilometer südwestlich von München, hat vor drei Jahren Abitur an der Waldorfschule in Landsberg am Lech gemacht. Gegen die oft belächelte Bewegungskunst Eurythmie hat er grundsätzlich nichts einzuwenden. "Klar ist das speziell. Ob es angenommen wird oder nicht, liegt viel am Lehrer", meint er, lehnt sich in seinen Stuhl zurück und nimmt einen Schluck Kaffee. "Gerade zu Rebellionszeiten, so mit 14, klappt es nicht, weil keiner Bock drauf hat. Man weiß ja, dass das so ein Waldorf-Ding ist, und macht sich darüber lustig."
Das Geistige mit dem Körperlichen zu verbinden, findet er aber schon gut. Überhaupt fällt seine Bilanz nach 13 Jahren Waldorf eher positiv aus. Angstfrei und ohne Druck sei er in die Schule gegangen. "Für viele ist der Übergang von der vierten in die fünfte Klasse ja ein Wahnsinnsstress", sagt der Mittzwanziger. "Für mich war das, wie in den Jahren zuvor, ganz entspannt. Die Entscheidung, Gymnasium oder nicht, lief echt ohne Stress ab." Von der Anthroposophie, einer umstrittenen Weltanschauung, die ebenfalls auf den Waldorfgründer Rudolf Steiner zurückgeht, habe er als Schüler lange nichts mitbekommen. "Damit wurden wir nicht direkt konfrontiert. Das fließt in die Unterrichtsmethoden ein. Mal besser, mal schlechter." Gemerkt habe er das unter anderem in Chemie. Da habe er einen hervorragenden Lehrer gehabt. "Der hat das nicht übertrieben mit dem Waldorf-Hokuspokus", erinnert sich Paul. "Er hat den Elementen aus dem Periodensystem Charaktereigenschaften gegeben, als wären sie lebendig. Dadurch wurde das sehr anschaulich."
Weniger anfangen könne er mit den Jahreszeiten-Tischen in den unteren Klassen. "Da gab es Figürchen aus Wolle, Feen und so Sachen. Man wollte uns zeigen, dass alles lebt, die Natur von Wesen bewohnt ist. Das war nicht so meins." Schade findet er, dass er in den Naturwissenschaften für seinen Geschmack etwas zu kurz gekommen und der Computerunterricht nicht auf der Höhe der Zeit gewesen sei.
"Das war eine Bauchentscheidung"
Gustav ist noch immer ein bisschen aufgeregt. Für ihn ist alles neu und spannend. Der sechsjährige Bub aus Schönbrunn hatte am Dienstag, zusammen mit 23 anderen, seinen ersten Tag in der Waldorfschule Landshut. Den Start erleichtert hat ihm nicht nur seine blau-rote Delfin-Schultüte. Das Gebäude war ihm schon vorher bekannt und die Waldorfpädagogik aus seiner Kindergartenzeit vertraut.
Für Gustavs Mutter Nicola Naaf-Kubon war es eine Bauchentscheidung, diese Schulform für ihren Ältesten zu wählen. "Mich überzeugen da meine eigenen Waldorf-Erfahrungen.
Für mich fühlt sich dieser Ansatz richtig an", sagt die gelernte Krankenschwester. Vor allem finde sie es wichtig, dass das Konzept den Kindern Zeit lasse, ihr eigenes Lerntempo finden zu können. Außerdem stünden Werte wie Gemeinschaftsgefühl, Vertrauen und der Mut, Neues auszuprobieren im Vordergrund. Das überzeuge sie.
Kritik an Schulgründer Rudolf Steiner könne sie nur bedingt nachvollziehen. Ihrer Meinung nach würden Zitate von den Medien oft aus dem Kontext gerissen oder verzerrt. "Ich mag das gar nicht mehr lesen", sagt sie "Für mich ist das nicht relevant. Überhaupt wollte Steiner selbst ja durchaus hinterfragt werden." So oder so ähnlich sehen das auch die anderen Eltern, von denen Naaf-Kubon viele aus Arbeitskreisen kennt. Da die Schule nach wie vor in der Gründungsphase steckt, packen alle tatkräftig mit an. Ihr Mann Carolus hat zum Beispiel einige handwerkliche Aufgaben übernommen, sie selbst mit acht anderen Müttern das Schulgebäude geputzt. "Durch solche Aktionen entsteht eine ganz andere Identifikation. Man lernt sich kennen. Schulfamilie ist da nicht nur eine Phrase, sondern wird wirklich gelebt."
Ein helles Zimmer. Auf einem Holzschränkchen ein Strauß mit Zweigen, an der Wand bunte Aquarellbilder. Durch das halbgeöffnete Fenster ist der Herbstwind zu hören. Im Stuhlkreis mit Dominika Aslam sitzt nun auch Gustav.