Filmfestspiele in Cannes
Cannes: Eine Revolution muss her!
18. Mai 2019, 0:00 Uhr aktualisiert am 18. Mai 2019, 0:00 Uhr
Regisseur Ken Loach bringt mit seinen 82 Jahren das bislang kraftvollste Palmenargument in den Wettbewerb von Cannes ein, Pedro Almodóvars Alterswerk enttäuscht
Am Roten Teppich hat Sir Elton gleich mal die Herzchenbrille mit rosa Gläsern getragen, die auch Taron Egerton im Film trägt. Schließlich hat Elton John "Rocketman" selbst mitproduziert, was gleichzeitig Authentizität verspricht - und Glättung. Authentizität suggeriert der Film dem Zuschauer im Abspann, wenn Filmbilder neben Originalbilder von Elton John geschnitten werden: Schaut her, es ist ein Lookalike, und das ist auch wirklich gelungen.
Ein Junge aus gutbürgerlichem Hause sucht nach seinem Ich
Ziel von "Rocketman" ist es, den Erfolg des Freddie Mercury-Queen-Films "Bohemian Rhapsody" noch zu toppen. Aber man kann den Einfluss von Queen und Elton John auf die Popmusik nicht vergleichen und auch den Film von Dexter Fletcher nicht. "Rocketman" ist ein aufgedrehtes Musical-Show-Biopic, in dem die berühmten Songs direkt als Lebenssituationsspiegel eingesetzt sind und Handlung auch gesungen wird.
Klar wird, dass hier ein Junge aus gutbürgerlichem Hause nach seinem Ich sucht, das er hinter schrillen Verkleidungen versteckt, und Drogenexzesse ihn über die Einsamkeit hinweg trösten. Die beginnt schon mit der kalten Mutter und dem verschlossenen, kaum anwesenden Vater, der wegen des gemeinsamen Kindes lange eine Muss-Ehe führt. Und die große Partnerschaft zum Textdichter Bernie Taupin (Jamie Bell) ist eine schwierige und brüderliche, die kurze Ehe mit einer Münchnerin nur Versteckspiel; die große Partnerschaft beginnt erst 2005, der Film endet um die Jahrtausendwende.
Wenn Hippieparties aussehen wie eine Hochglanzreklame
"Rocketman" war als Glanzpunkt in Cannes inszeniert, aber außerhalb des Wettbewerbs, in dem man mehr Zeitgeist und Politik wagen will. Der Film ist opulent ausgestattet, manchmal überausgestattet, etwa wenn Hippieparties aussehen wie eine Hochglanzreklame. Und er hat einen leichten Durchhänger beim xten Mal Koksen.
Die Rahmenhandlung ist eine Art Runde der Anonymen Alkoholiker, nur dass Elton John hier bekennt, abhängig von fast allen erdenklichen Drogen gewesen zu sein. Natürlich endet alles mit "I'm Still Standing!". Und wirkt glaubhaft, wenn Elton John clean strahlend und zurechtgezogen nach langem Applaus mit den Tränen ringt.
Die erste der vier Regisseurinnen im Wettbewerb durfte jetzt ihren Trumpf ausspielen: Sie ist Franco-Senegalesin und der Film "Atlantik" von Mati Diop spielt am Stadtrand und Strand von Dakar, wo eine junge Frau mit einem reichen Mann verheiratet werden soll, aber einen Bauarbeiter liebt. Bevor sie zusammenkommen, fährt er als verzweifelter Migrant auf einem Seelenverkäufer auf den Atlantik in Richtung Spanien hinaus und gerät in einen Sturm.
Der Film "Atlantique" von Mati Diop spielt am Stadtrand und Strand von Dakar
Das wird aus der Perspektive der jungen Ada (Mama Sané) erzählt. Und vor der Hochzeitsnacht mit dem reichen Omar brennt das neobarocke, weiß lackierte Ehebett ab, was die Polizei auf den Plan ruft und die Sache auch zum Krimi macht: War der Täter doch der Geliebte, der gar nicht auf das Flüchtlingsboot gegangen ist?
Was dann folgt, ist für europäisch aufgeklärte Zuschauer aber unbefriedigend. Denn die bisher klare Geschichte einer jungen Frau, die auf ein Zeichen ihres Geliebten wartet, kippt in einen irrationalen Geisterfilm. Eingewoben ist noch die Ausbeutung der Arbeiter, wobei emanzipierte Zombiefrauen den geprellten Lohn für ihre Richtung Europa aufgebrochenen Männer eintreiben und Fieber-Wahrträume die Lebensverhältnisse durcheinanderwirbeln.
Hätte die 36-jährige Regisseurin das letzte Drittel klar zu Ende geführt, wäre ein schöner, bewegender, aufschlussreicher Film entstanden. So bleiben nur die intensiven Bilder von Dakar zwischen Moderne und Armut, Verwestlichung und Tradition - sowie die Schönheit der Frauen, was wiederum nicht der Sinn einer Frauenquote wäre.
Bleibt also der lustige Vorwurf der "Gerontokratie" in Cannes, also der Herrschaft der alten Männer. Das bestätigten zumindest äußerlich Ken Loach, der 82-jährige Links-Brite, und Pedro Almodóvar, der mit 69 Jahren zwar jünger ist, aber dafür thematisch näher am Vorwurf.
Denn in "Dolor y Gloria - Leid und Herrlichkeit" geht es um einen ruhmreichen, aber gealterten spanischen Regisseur: Antonio Banderas spielt diesen Quasi-Almodóvar, der sich an seine arme Kindheit erinnert (mit Penélope Cruz als Filmmutter) und in einer gewaltigen Schaffenskrise ist, die sich in einem prekären physischen Niedergang in Kombination mit Hypochondrie äußert. Wie immer gelingen Almodóvar farbintensive, durchstilisierte Bilder, aber der Film hat keinen klaren Fluss, kein erzählerisches Zentrum und zerfällt in Schönheit.
Eine brutale Abrechnung mit der kapitalistischen Ausbeutung
Da liefert der andere Cannes-Veteran Ken Loach den radikale Gegenentwurf: "Sorry, We Missed You" ist eine brutale Abrechnung mit der kapitalistischen Ausbeutung, die jetzt nicht einmal mehr auf eine gut organisierte, stolze Arbeiterschaft trifft, sondern auf ausgebeutete Ich-AG-Menschen. Es geht um einen Paketzusteller, der auf eigene Rechnung im Akkord und mit krassen Überstunden die Kontrolle über sein Leben verliert, das zu Beginn des Films in einer liebenden Familie Halt hat, die durch die moderne Schuldknechtschaft ruiniert wird. Das zeigt Ken Loach niemals peinlich kitschig, sondern erschütternd und ergreifend echt.
Und vielleicht sollten wir bei unserer nächsten Internetbestellung und dem Paket-Tracking in Echtzeit hinter die nette "Just-in-Time"-Reklamefassade schauen: Da lauert nämlich ein Dumpinglohn-Abgrund ohne feste Arbeitszeiten und Mindestlohn. Es braucht eine Revolution, so sieht das Ken Loach.