Kultur
Das Spiel des Lebens
13. Januar 2023, 15:07 Uhr aktualisiert am 15. Januar 2023, 11:27 Uhr
Aus den Lautsprechern tönt Paolo Contes "It's wonderful". Auf der Bühne wird alles für ein Casting vorbereitet. Liv Stapelfeldt steckt sich noch schnell und routiniert ein Covid-Teststäbchen in die Nase, holt sich einen Tee und ordnet ihre Unterlagen auf dem Tisch. Von der Decke hängen vereinzelte Wandelemente: Versatzstücke einer Realität, die vergangen ist.
Mathias Spaan hat am Münchner Volkstheater Tom McCarthys Roman "8 1/2 Millionen" inszeniert. Nach einem schweren Unfall - ihm ist etwas auf den Kopf gefallen - empfindet der namenlose Ich-Erzähler all sein Tun als "künstlich" und "second hand". Er ist gelangweilt von allem. Als er auf einer Party in einem fremden Badezimmer einen Riss in der Wand sieht, hat er ein Déja-Vu. Schon einmal war er in genau so einem Raum, damals hat sich alles echt angefühlt. Dahin will er zurück. Weil er als Entschädigung für den Unfall die schwindelerregende Summe von achteinhalb Millionen Pfund erhalten hat, kann er es sich leisten, sich die Welt so zu bauen, wie sie ihm gefällt. Sein Wahnsinnsprojekt: ein Reenactment des eigenen Glücks, der eine erfüllte Moment in Endlosschleife.
McCarthys Roman handelt also von der Inszenierung der Wirklichkeit - und eignet sich somit ideal für eine Bühnenadaption. Regisseur Mathias Spaan hat dieses Potential erkannt und schöpft es gekonnt aus. Gemeinsam mit Leon Frisch hat er eine kluge und konzentrierte Fassung erstellt, die den Schwerpunkt auf das Theatrale legt, auf die Inszenierung des eigenen Lebens als scheinbar kontrollierbares Drama.
Ein bisschen wie in Peter Weirs Film "Truman Show", nur dass der Protagonist hier weiß, dass die Welt um ihn eine inszenierte ist. Er weiß es nicht nur, er selbst ist ihr Schöpfer, ihr Autor und Regisseur. Meeno Jürgens, Steffen Link, Janek Maudrich und Liv Stapelfeldt übernehmen alle mal die Rolle des Erzählers, mal die des Teams, das er um sich versammelt. (Schließlich muss ein ganzes Gebäude nach seinen Erinnerungen umgebaut und mit Leben gefüllt werden.)
Spaan steigt direkt ein mit dem Casting für dieses Mammutvorhaben, die Hintergründe enthüllt er erst nach und nach. Gesucht werden: der Pianist von oben; die alte Frau, die Leber brät; der Motoradschrauber im Hof; ja selbst die schwarzen Katzen auf dem Dach gegenüber. Alles für die Illusion von Authentizität. "Schön, dass Sie unserem Aufruf gefolgt sind", wendet sich einer der Caster ans Publikum. Ein weiterer erläutert: Man müsse gar nichts "können" oder verstehen, sondern einfach "normal" sein. Denn genau darum geht es ja: um die künstliche Erzeugung eines perfekt "normalen" Alltags.
Doch ist das Glück rekonstruierbar? Ist die erinnerte, die inszenierte Welt die bessere? Die verlässlichere? Geht es auch darum? Um die Angst vor dem Kontrollverlust in einer Welt, in der einem mal eben aus heiterem Himmel ein Ding auf den Kopf fällt und dem Dasein, wie es war, abrupt ein Ende setzt? Immer wieder hallt auch das durch: die Sehnsucht nach einem Davor, das es nicht mehr gibt. Der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen. Das Verlangen nach Normalität. Doch was ist normal? Kann eine Inszenierung so gut sein, dass sie real wird?
Die philosophischen Fragen über das Leben, sie kommen ganz selbstverständlich und unaufdringlich an diesem Abend. Während sich das Ensemble am Anspruch auf Perfektion abarbeitet, läuft parallel ein raffiniertes Spiel mit der Realität ab. Der Erzähler jedenfalls sucht das "Echte" in der Künstlichkeit, in einer bis ins letzte Detail durchinszenierten Kulisse. Die Ansprüche werden immer höher, die Illusion immer unmöglicher. "Das Sonnenlicht macht es nicht richtig", klagt er irgendwann. Es bewegt sich anders über den Boden. Weil es später ist im Jahr. Das Universum, es lässt sich nicht austricksen. Oder doch? Die Nachspiel-Projekte werden ausgeweitet: ein Tatort wird "gekauft", um eine Schießerei nachzustellen, den eigenen Tod, diesen "Nullpunkt der Vollkommenheit". Janek Maudrich ist wunderbar als Naz, als ausführender Kopf dieses Welttheaters. In zugeknöpftem Hemd und mit zurückgegelten Haaren versucht er alle Wünsche seines egozentrischen Kunden zu erfüllen, von Ersatzkatzen fürs Dach bis hin zum Nachspiel eines Banküberfalls. Das Spielfeld erweitert sich vom eigenen, erinnerten Leben zum anderen, möglichen. Das Spiel führt schließlich zurück in die Welt da draußen, in die Realität einer Bank mit realen Angestellten. "Dieses Nachspiel konnte man nicht abbrechen." Es war: echt. Authentisch. Ein Spiel des Lebens. - "8 1/2 Millionen" ist ein fantastisch leichter und kluger Abend über nicht viel weniger als den Sinn des Ganzen. "It's wonderful."
Wieder am 24./25./27. Januar um 20 Uhr im Volkstheater