AZ-Filmkritik

"Der Junge muss an die frische Luft": Humor ist, wenn man trotzdem lacht


Ruhrpott 70er Jahre: Hans-Peter (Julius Weckauf) mit seiner fröhlichen Verwandschaft.

Ruhrpott 70er Jahre: Hans-Peter (Julius Weckauf) mit seiner fröhlichen Verwandschaft.

Von Selim Aydin

Caroline Link verfilmt Hape Kerkelings Kindheitserinnerungen "Der Junge muss an die frische Luft" so wie das Leben eben oft ist: tragikomisch.

Der Typ ist ein Phänomen. Als windiger Lokalreporter Horst Schlämmer oder als Königin Beatrix hatte Hape Kerkeling ein Multimillionen-Publikum. Und er beherrschte die Kunst, sich über Menschen lustig zu machen, ohne sie der Lächerlichkeit preis zu geben. Hinter Kerkelings Parodien und Beobachtungen steckt immer ein menschenfreundlicher Kern.

"Woher nimmt der Kerl das?" haben sich Fans und Feuilletonisten immer wieder gefragt. In seinem zweiten Buch "Der Junge muss an die frische Luft" ging Kerkeling selbst dieser Frage nach und versuchte zu erklären, wie er zu dem wurde, der er heute ist. Eingebettet in anekdotischen Erinnerungen an eine Kindheit im Ruhrpott der 70er schrieb sich Kerkeling ein Trauma von der Seele. Gerade einmal acht Jahre alt war er, als sich seine depressive Mutter das Leben nahm, was der Junge miterleben musste.

Die Welt aus der Sicht von Hape Kerkeling

Dass "Der Junge muss an die frische Luft" trotz seines schrecklichen Kerneignisses über weite Strecken ein ungeheuer heiteres und in seiner Grundhaltung überzeugend optimistisches Buch geworden ist - das macht die unverlogene Kraft von Kerkelings Lebensbekenntnissen aus.

Ein solcher Stoff erfordert bei seiner Übertragung auf die Leinwand hohe Sensibilität, zumal hier angesichts der Popularität des Autors im Mainstream-Format gearbeitet werden muss. Drehbuchautorin Ruth Toma hat Kerkelings Buch von Ballast befreit. Einzig und allein die Sicht von Hans-Peter (Julius Weckauf) zählt, den Regisseurin Caroline Link hin und wieder auch kommentierend ins Geschehen eingreifen lässt.

Dieser Hape wächst im Schoße seiner Großfamilie in Recklinghausen auf. Der Vater (Sönke Möhring) ist oft auf Montage und nur am Wochenende zu Hause. So ist es an dem aufgeweckten Sohn seine Mutter (Luise Heyer) mit kleinen Späßen und Show-Einlagen bei Laune zu halten.

Jeder Mensch ist eine Inspiration

Ein steter Quell der Inspiration bietet hier das Umfeld. Im Lebensmittelladen der Großmutter lässt sich die tratschende Nachbarschaft bestens studieren, aber auch die feierlustige Verwandtschaft sorgt für kreativen Input: Die Tante, die bei jedem Fest zu Zara-Leander-Imitationen ausholt, nur um danach angesichts eigener Kriegserinnerungen in einen halbstündigen Heulkrampf zu verfallen.

Oder Oma Änne (Hedi Kriegskotte), die einfach mal so fragt "Hans-Peter, willst du ein Pferd?" und wenig später mit dem Jungen in der eigenen Kutsche durch Recklinghausen fährt. Es sind die patenten Frauen, die das Sagen haben und den Jungen mit ihrem beherzten Zweckoptimismus prägen.

Die Liebe wird zum Rettungsanker

Das verwandtschaftliche Umfeld wird umso mehr für das Kind zum Rettungsanker, wie sich die eigene depressive Mutter zunehmend aus der Welt zurückzieht - bis hin zu jener Nacht, als der Junge wie gelähmt neben der Mutter liegt, die eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat.

Wie schafft es ein Kind nach einem solchen Erlebnis nicht verrückt zu werden? Die Antwort, die Kerkeling und mit ihm auch dieser Film gibt, ist von überzeugender Schlichtheit: durch die Liebe derer, die die Verantwortung für den Jungen übernehmen. Genauso wie Kerkelings Buch ist auch dieser Film eine Ode an die chaotischen Wirkungskräfte der Großfamilie.

Natürlich ist "Der Junge muss an die frische Luft" dabei ein ungeheuer sentimentales, aber auch ein ebenso aufrichtiges Werk, von dem man sich ohne faden Nachgeschmack zu Tränen rühren lassen kann. Link versteht, dass Komik und Tragik einander bedingen, lässt die gegensätzlichen Elemente miteinander verschmelzen - und trifft damit die Essenz des Kerkeling'schen Lebensgeistes.

Kino: Astor Filmlounge (Arri und Bayerischer Hof), Rex, Cincinatti, Sendlinger Tor, Solln, Mathäser, City, Gloria, Leopold, Maxim, Rio, Regie: Caroline Link (D, 95 Min.)