69. Berlinale
Die Bewegung im Stillen
15. Februar 2019, 20:06 Uhr aktualisiert am 15. Februar 2019, 20:06 Uhr
Die Berlinale ist auch im letzten Jahr von Dieter Kosslick unter Beschuss. Doch es gab preiswürdige Wettbewerbsfilme. Wer wird jetzt die Bären gewinnen?
Berlin - In Berlin herrschte am Freitagmorgen Stillstand, zumindest auf den Gleisen der Stadt. Die Berliner Verkehrsbetriebe streikten, die U-Bahnen, Busse und Trams fuhren bis 12 Uhr nicht. Mehr Geld und mehr Freizeit sind, verkürzt gesagt, die Forderungen der Gewerkschaft Verdi, am 5. März soll erneut verhandelt werden.
Ein Warnschuss also, und für einen Moment wirkte die Stadt etwas ruhiger, vielleicht auch, weil die Berliner vorgewarnt waren und sich auf den Streik gut vorbereitet hatten. Dass auch auf der Berlinale Stillstand herrscht, ist ein Vorwurf, der schon länger die Ära Dieter Kosslick begleitet. Dabei ist Unzufriedenheit eine Berufskrankheit der Kritiker, die sich, wie so oft, durch einen Wust von 400 Filmen schlagen mussten.
Der Wettbewerb wurde, ebenfalls wie so oft, als mittelmäßig bis schlecht bezeichnet, der Mangel an Stars auf dem roten Teppich beklagt. Aber dann waren doch einige da, etwa Christian Bale oder Catherine Deneuve oder Charlotte Rampling, die am Donnerstag ihren Ehrenbären entgegennahm.
Identitätskrisen gehören zum Kino
Und einige Filme spalteten so die Gemüter, dass sie für den Wettbewerb letztlich genau richtig waren. Ob Jurypräsidentin Juliette Binoche Gefallen an Fatih Akins hanseatischem Horrorfilm "Der goldene Handschuh" fand, ist zu bezweifeln. Aber Jonas Dassler, gerade mal 23 Jahre alt, bietet sich in der Rolle des Frauenmörders Fritz Honka als eine der wenigen Anwärter auf den Hauptdarsteller-Bären an.
In Frage käme noch Francesco di Napoli, der in "Piranhas" eine jugendliche Version von "Scarface" spielt: einen 15-jährigen Jungen in Neapels Viertel Sanità, der entschlossen eine Karriere als Mafiosi angeht. Oder Tom Mercier, der in "Synonymes" von Nadav Lapid als Israeli in Paris seinen Sprachschatz so perfektionieren will, dass er seine Herkunft völlig verschleiern kann.
Identitätskrisen gehören zum Standard des menschlichen Daseins und damit natürlich auch des Kinos. Dabei konnte man im Wettbewerb vor allem interessanten Frauenfiguren dabei zuschauen, wie sie versuchen, trotz Schicksalsschlägen und Alltagsproblemen Halt zu finden.
Favoritin für die beste Darstellerin erst elf
"Der Boden unter den Füßen" wurde Valerie Pachner als Unternehmensberaterin in Marie Kreutzers Film weggezogen, aber diese Mischung aus Drama und Psychothriller ist so unausgegoren, dass die Jury wohl kaum einen Preis dafür vergeben wird. Eine Favoritin für die beste Darstellerin ist die gerade mal elfjährige Helena Zengel: In Nora Fingscheidts Debütfilm "Systemsprenger" spielt sie furios ein verhaltensauffälliges Mädchen mit hohem Aggressionspotential und unbändigem Freiheitswillen.
Gerne schaute man auch Zorica Nusheva in dem mazedonischen Wettbewerbsbeitrag "God exists, Her Name is Petrunya" zu. Als titelgebende Petrunya stört sie ein religiöses Ritual, indem sie als einzige Frau unter lauter halbnackten Männern einem Kreuz hinterherspringt, dass am Dreikönigstag von einem Priester traditionellerweise in einen Fluss geworfen wird - und es als Erste herausfischt.
Für ihre kluge Satire über die Untiefen des patriarchalen Systems und die frischen Wellen weiblicher Selbstbestimmung könnte Regisseurin Teona Strugar Mitevska durchaus einen Bären gewinnen.
Festivalmotto: "Das Private ist politisch."
Als weiterer Favorit für den Hauptpreis ist kurz vor Schluss noch der chinesische Beitrag "So long, my son" von Wang Xiaoshuai aufgetaucht, ein dreistündiges Epos über ein Paar, das den Tod seines eigenen Sohnes mit der Adoption eines anderen Kindes kompensieren will, die Erinnerung und Trauer aber nicht abschütteln kann. Gleichzeitig umfasst der Film drei Jahrzehnte chinesischer Geschichte und passt damit zum Festivalmotto "Das Private ist politisch".
Aber vielleicht ist der Jury vor allem "Ich war zuhause, aber" von Angela Schanelec im Gedächtnis geblieben. Erneut eine Geschichte über Tod und Trauer, aber auch den sanften Irrwitz des Alltags und die trügerische Natur der Kunst, eingefangen in einem Film, der sich um die konventionelle Dramaturgie nicht schert, sondern fragmentarisch und elliptisch erzählt und dadurch die Freiheit gibt, sich selbst einen Reim aus den Bildern zu machen.
Nichts ist klar, auch das Verhalten der von Maren Eggert verkörperten Mutter nicht. Außen wirkt vieles still, doch unter der Oberfläche ist etwas in Bewegung. Was dabei entsteht, könnte man Poesie nennen. Und dafür sind doch Bären gemacht.