Kultur

Eine Nacht mit Putins Chefideologen

Giuliano da Empoli hat mit "Der Magier im Kreml" einen außergewöhnlichen Politroman verfasst


Giuliano da Empoli.

Giuliano da Empoli.

Von Volker Isfort

Wie tickt Putin? In den vergangenen zwölf Monaten, nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, gab es viele Versuche, die westliche Selbsttäuschung aufzuarbeiten.

Aber wohl niemand hat dies so packend getan wie der Italo-Schweizer Giuliano da Empoli, dessen Roman "Der Magier im Kreml" zwar auch vor dem Krieg geschrieben wurde, sich nun aber wie das Buch der Stunde liest. Dem Autor und Gründer eines Pro-europäischen Thinktanks gelingt das Kunststück, in seiner fiktiven Geschichte mehr Erkenntnisse aufzutischen als die meisten Biografien über Putin bis dato erzählten. Denn er unternimmt eine Reise tief in die Seele des "Zaren" und der russischen Nation zum Wesen der Macht.

Der Ich-Erzähler des Romans fährt nach Moskau, um Material über den Autor Jewgeni Samjatin zu sammeln, dessen unbedingt lesenswerte Dystopie "Wir" 1920 die Eindrücke der bolschewistischen Revolution verarbeitet und einen Überwachungsstaat beschreibt, in dem es "nach dem 200-jährigen Krieg" keine Individualität mehr gibt.

Sowohl George Orwell als auch Aldous Huxley haben Samjatin gelesen und seine Ideen für ihre Werke aufgegriffen. Das Buch erschien nie in der Sowjetunion, aber immerhin gelang es dem mit Schreibverbot belegten Samjatin 1931, Stalin davon zu überzeugen, ausreisen zu dürfen. Sechs Jahre später starb er verarmt in Paris.

Die Rahmenhandlung endet schon nach zwei Dutzend Seiten, als der Ich-Erzähler von Wadim Baranow in ein Landhaus außerhalb von Moskau eingeladen wird, um ihm Samjatins Brief an Stalin zu zeigen. Und dann erzählt Baranow eine ganze Nacht (und 220 Seiten) lang von seiner Zusammenarbeit mit Wladimir Putin, den er 15 Jahre lang als eine Art Spin-Doctor begleitete.

"Der Magier im Kreml" hat ein reales Vorbild, Wladislaw Surkow, ein ehemaliger TV-Produzent, der auch als Putins Chefideologe bezeichnet wurde und bis 2020 als Berater des Präsidenten auftrat. Diesen Mann hat Giuliano da Empoli nie getroffen, aber der Roman gibt ihm die Freiheit, in dessen Kopf zu kriechen und aus Putins und Surkows Sicht, die russische Politik aufzurollen. Bei diesem Blick ins Herz der Finsternis wird es bisweilen so kalt, dass man beim Lesen meint, die Seiten vereisen.

Auch wenn die Geschichte von Putins großem Trauma, dem Zerfall der Sowjetunion, den Jahren der Anarchie, der Gewalt und der Staatsplünderung durch die Oligarchen häufig erzählt worden ist, so bekommt sie durch da Empolis erzählerischen Kunstgriff und seine präzise Sprache eine besondere Intensität. Über 400 000 Exemplare wurden in Frankreich verkauft, obwohl der Roman vor dem dem Krieg gegen die Ukraine 2022 endet.

Mit kristalliner Klarheit schreibt der Autor über die Essenz der Macht: "Die Politik verfolgt ein einziges Ziel: Sie reagiert auf die Ängste der Menschen." Diese schürt Putin von Beginn an selbst: Nur mit den vom Geheimdienst begangenen Anschlägen im eigenen Land, für die Putin tschetschenischen Terroristen verantwortlich machte, konnte der unbekannte Politneuling sich für das Volk als Mann der Tat inszenieren. Schon Stalin hatte erkannt, dass nur der das Ruder in der Hand halte, dem es gelinge, den "dumpfen, heiligen Volkszorn" zu kanalisieren. Denn "Wut ist eine strukturelle Gegebenheit. Sie ist eine Grundströmung."

Spätestens mit der Annexion der Krim ist der Aufstieg zum Zar vollzogen und jeder noch so kleine Widerstand gegen Putin unmöglich geworden. Und Giuliano da Empoli erinnert mit poetischer Kraft an die großen lateinamerikanischen Diktatorenromane, wenn Baranow dem Ich-Erzähler Putin beschreibt: "Mit der Zeit ist er fast zu einem Element geworden, wie der Himmel oder der Wind. (….) Sein Gesicht hat bereits die marmorne Blässe der Unsterblichkeit angenommen."

Giuliano da Empoli: "Der Magier im Kreml" (C.H. Beck, 264 Seiten 25 Euro)