Kultur
Einübung in Empathie
20. März 2023, 17:13 Uhr aktualisiert am 21. März 2023, 17:01 Uhr
Gerade das erste Kapitel von Daniel Glattauers neuem Roman liest sich wie das Drehbuch zu einem Film. "Wir sehen einen gedeckten Terrassentisch, überdacht mit einer vanillefarbenen Plane, flankiert von Steinmauern eines Landhauses im warmen ockergelben Licht", lautet der erste Satz, so, als wolle Glattauer von Beginn an den Blick einer Kamera auf ein idyllisches, betont helles Szenario definieren.
Es ist ein Blick, der über weite Strecken des Buchs distanziert bleibt und zunächst zu einigen genüsslich humoristischen Passagen führt. Die Mitglieder der beiden Familien, die gemeinsam in die Toskana in den Sommerurlaub fahren, charakterisiert der österreichische Autor in kurzen, reißbrettartigen Personenbeschreibungen. Schnell macht er klar, dass hier stark unterschiedliche, aber dennoch befreundete Menschen gemeinsam die Ferien verbringen wollen. Da ist auf der einen Seite die Familie Strobl-Marinek, mit Vater Oskar als besserwisserischem Akademiker, dem die Professur an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien verwehrt blieb, und seiner Frau Elisa, einer Grünen-Politikerin, die im Gegensatz zu ihrem Gatten vielleicht noch eine große Karriere vor sich hat.
Ihnen gegenüber wirkt die Familie Binder wesentlich bodenständiger: Melanie Binder wollte Schauspielerin werden, landete aber in der Werbung "und erreichte mit der Kür zur Wachauer Jahrgangs-Marillen-Königin ihren persönlichen Tiefpunkt". Immerhin, der Kultur blieb sie treu, indem sie Kulturmanagement studierte und nun Veranstaltungen organisiert. Ihr Gatte Engelbert ist ein "kleiner stämmiger Mann Mitte vierzig", der mit seiner Herzlichkeit jedes Problem zu übertünchen versucht und als "Spitzen-Biowinzer" seine Schäfchen und Trauben (einigermaßen) im Trockenen hat.
In diese bürgerliche Clique mitsamt insgesamt drei Kindern implantiert Glattauer jedoch buchstäblich einen Fremdkörper. Die ältere Tochter der Strobl-Marineks, die 14-jährige, smartphonesüchtige Sophie Luise, hat darauf bestanden, dass sie eine Schulfreundin mitnehmen darf: Aayna, Tochter einer Flüchtlingsfamilie aus Somalia. Aayna ist der deutschen Sprache kaum mächtig und verhält sich so brav, dass Engelbert zum begeisterten Schluss kommt: "Die spürst du gar nicht."
Womit man beim Thema dieses Romans angekommen ist. Denn mit "Die spürst du nicht" hat Daniel Glattauer eine, in seinem Falle österreichische, Wohlstandsgesellschaft im Visier, die sich um ein gewisses Gutmenschentum bemüht, aber sich letztlich nicht wirklich für das Schicksal anderer interessiert. Grünen-Politikerin Elisa denkt vor allem über ihre Affäre mit einem Polizisten nach. Sophie Luise kümmert sich weniger um ihre muslimische Freundin als um die nächste Selfie-Serie - schließlich will sie Influencerin werden.
Was wie eine heitere Urlaubs-Satire im Stile der Serie "The White Lotus" beginnt, bricht jedoch abrupt am Ende des ersten Kapitels ab. Ein Unglück passiert, der Urlaub muss beendet werden und das launig eingeführte Personal dieses Romans muss plötzlich mit den Folgen der Katastrophe fertig werden, was neben ein paar Schuldgefühlen vor allem die Ich-Bezogenheit der Beteiligten noch mehr hervortreten lässt.
In die Narration lässt Glattauer wiederum andere Textsorten einbrechen - Pressemeldungen über das Unglück, in das schlagzeilenträchtig die Grünen-Politikerin Strobl-Marinek verwickelt ist; Kommentare in Internetforen, in denen sich Unbekannte freimütig über die Geschehnisse äußern und gegenseitig mit Schimpfwörtern anfeinden dürfen; sowie Chats, in denen die traumatisierte Sophie Luise mit einem französischen Jungen anbandelt, der vermutlich nicht der ist, der er zu sein vorgibt.
Wie virtuelle Kommunikationsformen die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern, wie sie womöglich eine andere Offenheit zulassen, aber auch Anonymität befördern und neue Probleme entstehen lassen, hat Daniel Glattauer bereits in seinen E-Mail-Romanen "Gut gegen Nordwind" (2006) und "Alle sieben Wellen" (2009) beleuchtet und traf damit den Nerv eines Massenpublikums. In "Die spürst du nicht", seinem ersten Roman seit neun Jahren, mischt er nun virtuos das, was wir täglich an Texten zu lesen bekommen, um von mangelnder Nächstenliebe, Vorurteilen gegenüber Fremden und Entfremdung, auch innerhalb von Familien, zu erzählen, was durch die digitalen Medien nur noch befördert wird. Ganz zynisch ist Glattauer jedoch nicht. Es gibt durchaus Hoffnungsschimmer in seiner Geschichte, die er klug durchkonstruiert hat und zügig, mit drehbuchartigen Dialogen, zündenden Pointen und einem die Konflikte bündelnden, wendungsreichen Gerichtsprozess ablaufen lässt.
Während alle möglichen Diskurse über das Unglück geführt werden, anmaßend vor allem von der Internet-Community, die Glattauer wie einen pervertierten griechischen Chor im virtuellen Raum auftreten lässt, schweigt die Familie von Aayna lange Zeit und kommt schließlich doch zu Wort. Die Erzählung, die Literatur selbst entpuppt sich als Mittel, um Distanzen zwischen Fremden zu verringern und hier vor allem das Schicksal Geflüchteter einem wohlstandsgesättigten Publikum nahe zu bringen.
Der satirische Ton, den Glattauer am Anfang anschlägt, erweist sich als geschickte Strategie, um die Leserschaft in den Fluss der Geschichte hineinzureißen und am Ende zu berühren.
Dass man sich von den Strobl-Marineks und Binders doch nicht so leicht distanzieren kann, dass ihre Beweggründe und die der geflüchteten Familie transparent werden - dieses Kunststück gelingt Glattauer hervorragend. Sein Buch ist eine rasante Einübung in Empathie. Was Menschen in ihrer Heimat, auf ihrer Flucht und in Europa erleben müssen, versucht "Die spürst du nicht" zumindest ansatzweise spürbar zu machen.
Daniel Glattauer "Die spürst du nicht" (Zsolnay, 303 Seiten, 25 Euro)