Kultur in der Corona-Krise
Ex-Kunstminister Heubisch kritisiert Söder: "An der Realität vorbei"
17. Juni 2020, 18:02 Uhr aktualisiert am 17. Juni 2020, 18:30 Uhr
Die neuen Regeln für kulturelle Veranstaltungen bringen kaum Fortschritte und erzürnen den ehemaligen Kunstminister Wolfgang Heubisch.
München - "Söder und Aiwanger vergleichen halbe Brathendl mit ganzen Enten", sagt Wolfgang Heubisch zur neuen Lockerung der Corona-Beschränkungen für kulturelle Veranstalter. Erst waren es 50 Besucher. Ab Montag dürfen Theater, Konzertsäle und andere Spielstätten unter Beachtung von Abstands- und Hygieneregeln 100 Personen einlassen. Und im Freien ist die doppelte Anzahl erlaubt.
Heubisch, ehemaliger Kunstminister der CSU-FDP-Koalition unter Horst Seehofer, ärgert sich über das Misstrauen, mit dem der Ministerpräsident, sein Vize und Kunstminister Bernd Sibler den Kulturbetrieb zum zentralen Seuchenrisiko erklären, während man in Flugzeugen mittlerweile wieder enger zusammenrückt und in der Gastronomie weitere Lockerungen anstehen.
Heubisch: Mehr Selbstverantwortung wagen
"Die Besucheranzahl darf nicht mehr per Landesverordnung vorgegeben werden", sagt Heubisch. Den FDP-Kultursprecher stört, dass derzeit nicht zwischen der 2.100 Besucher fassenden Staatsoper und einer Kabarettbühne wie der Lach- und Schießgesellschaft unterschieden wird. "Wir setzen lieber auf Selbstverantwortung", so der Landtagsvizepräsident gut freidemokratisch.
Nach Heubischs Auffassung sollen Kulturveranstalter unter Wahrung der Hygiene- und Abstandsregeln eigenverantwortlich entscheiden, wie viele Besucher in ihrer Einrichtung Platz finden können: "Das wäre ein wichtiger Schritt, um endlich wieder eine Planbarkeit des künstlerischen Betriebs zu ermöglichen und die Einnahmesituation der Kultureinrichtungen zu verbessern."
Aus den Theatern schlägt Heubischs Vorschlag Sympathie entgegen, etwa beim Augsburger Intendanten André Bücker. Der twitterte zuletzt traurige Fotos eines Konzerts vor 50 Zuhörern in der 1.400 Plätze fassenden Augsburger Kongresshalle. "Wir haben ausgefeilte Hygienekonzepte für unsere verschiedenen Spielstätten entwickelt, mit denen wir sowohl das Publikum als auch unser Personal schützen könnten", sagt Bücker, der individuelle Lösungen je nach Raum entwickeln möchte.
Staatstheater beklagen Informationsfluss
Im Unterschied zu den Münchner Intendanten verfügt Bücker auch über eine Freilichtbühne. Er möchte am Roten Tor bis zum Ende der Saison Musical-Galas mit den eigentlich für "Kiss Me, Kate" engagierten Solisten sowie Symphoniekonzerte veranstalten. Und weil der Freistaat an der frischen Luft in Absprache mit den lokalen Behörden individuelle Lösungen zulässt, dürfen wahrscheinlich auch mehr als die am Dienstag von Söder genannten 200 Zuschauer in den über 2.000 Plätze fassenden Publikumsbereich.
In den Münchner Staatstheatern herrscht keine große Begeisterung über die neuen Lockerungen. Zitiert möchte niemand werden, aber Sätze wie "Es geht zäh voran" oder die Bemerkung, es sei "immerhin ein Schritt" sind das maximale Lob. Überall wird der Informationsfluss beklagt: Die Staatstheater erfahren die Entscheidungen auch erst aus den Medien oder der ins Internet übertragenen Pressekonferenz nach der dienstäglichen Kabinettssitzung, Schriftliches wird erst mit wochenlanger Verspätung nachgereicht.
Und auch wenn es niemand direkt sagt: Ein besonderes Schwergewicht ist der Kunstminister im Kabinett nicht. Den Minsterpräsidenten interessiert das Thema nur mäßig, seinen Vize Aiwanger gar nicht. Kunst und Kultur sind in den Pressekonferenzen höchstens halb so wichtig wie Gottesdienste und Schankwirtschaften. Und es bleibt schwer einzusehen, dass bei der S-Bahnfahrt zur Veranstaltung und beim anschließenden Glas Wein laxere Regeln gelten als im Theater während der Aufführung.
Zuschauerzahl an Raumgröße anpassen?
Dabei hatte Sibler die Staatstheater schon vor etlichen Wochen angewiesen, genau auszumessen, wieviele Zuschauer unter Wahrung der Abstandsregel denn Platz finden könnten. Im Residenztheater waren dies beispielsweise 163, im Gärtnerplatztheater 156 und in der Staatsoper immerhin rund 400. Auch wenn er diese Zahlen in die politische Diskussion gebracht haben sollte, durchgesetzt hat sich der Kunstminister damit bis heute nicht.
Dabei warten alle Kulturschaffenden auf das grüne Ampel-Licht, viele Zuschauer auch. Till Hofmann, der seit Montag mit dem neu gegründeten Festival "Eulenspiegel Flying Circus" den Passauer Domplatz bespielt, berichtet von "total schönen Reaktionen" der Zuschauer, die froh seien, ein bisschen Normalität bei Konzerten zu erfahren. Bislang darf er nur 100 Karten für den großen Platz verkaufen, ab kommenden Montag dann 200.
Bei eingehaltenem Sicherheitsabstand hätten aber über 400 Zuschauer die Möglichkeit, Dreiviertelblut, Helmut Schleich oder Alfred Dorfer mal wieder live zu sehen, weshalb Hofmann die neue "Lockerung" der Staatsregierung auch nicht ganz nachvollziehen kann. Es wäre doch einfacher, glaubt der Kulturveranstalter, wenn man generell die Zuschauerkapazität an die Größe des Raumes anpassen dürfe: Die Ticketanzahl ließe sich dann einfach nach der Quadratmeterfläche des Publikumsbereichs berechnen. Schließlich brauchen die Veranstalter eine Planungssicherheit.
Lustspielhaus: Ökonomisch nicht machbar
Für seine Münchner Bühnen wie das Vereinsheim, die Lach- & Schieß und das Lustspielhaus haben die neuen Bestimmungen ohnehin keinerlei Auswirkungen. "Solange es beim Mindestabstand bleibt, kann ich dort nicht öffnen", sagt Hofmann. Denn mit maximal 60 Zuschauern im Lustspielhaus ist keine Veranstaltung ökonomisch machbar.
Dieses Problem treibt derzeit auch die Muffathalle um, die am Wochenende bislang ohne Zuschauer ein kulturelles Angebot streamt. "Wir müssen weiter warten", sagt Ralf Binder vom Muffatwerk. "Aber solange wir nicht mindestens 200 oder 250 zahlende Zuschauer in die Muffathalle lassen dürfen, können wir keine Konzerte durchführen, bei dem auch die Bands etwas verdienen und wir nicht draufzahlen."
100 Zuschauer auf 1.300 Plätzen?
Die neue Lockerung bringt dem Muffatwerk also gar nichts. Auch das Literaturhaus profitiert nicht von den neuen Regeln. Im Haus am Salvatorplatz beginnt am 1. Juli wieder eine Lesungsreihe, bei der 50 Zuschauer live dabei sein können, wenn zum Auftakt Rolando Villazón seinen neuen Roman "Amadeus auf dem Fahrrad" vorstellt. Unbegrenzt viele Gäste können der Veranstaltung aber per Stream folgen.
Marion Bösker vom Literaturhaus kennt das Problem, wenn man Stammgästen keine Karte mehr anbieten kann. Einfach auf 100 Zuschauer aufstocken darf sie aber nicht. "Wir haben mit dem Zollstock und verschiedenen Aufbauvarianten rumprobiert", sagt sie. Aber viel mehr als 50 Stühle darf sie im Saal, der sonst über 300 Leute fasst, nicht platzieren.
Im Deutschen Theater, wo der reguläre Musicalbetrieb am 2. September mit "Die Päpstin" beginnen wollte, hofft man noch auf weitere Lockerungen. Denn für 100 Zuschauer braucht man das 1.300 Plätze fassende Theater nicht aufzusperren, außerdem haben die weit über zweistündigen Musicals auch eine Pause. Und diese ist Theatern auch in der neuen Normalität noch verboten.