Kultur
Familienbande
27. März 2023, 19:36 Uhr aktualisiert am 27. März 2023, 19:36 Uhr
Künstler sind auch nur Menschen, so banal das klingen mag. Und selbst die ganz großen fallen nicht vom Himmel. Genauso wenig sind sie ein Leben lang nur unverstanden. Das ist vielleicht das gebräuchlichste Klischee, das gerade einem "Schwierigen" wie dem am 30. März vor 170 Jahren geborenen Vincent van Gogh anhängt, der bis zu seinem Freitod im Juli 1892 - oder war es doch Mord? - keinen einzigen Erfolg erfahren darf und als Sonderling irritiert.
Natürlich, es gibt den vier Jahre jüngeren Bruder Theo, der Vincent mit bewundernswerter Geduld ermutigt und fast bis zum eigenen Ruin unterstützt. Irgendwann kommt es auch zwischen den ungleichen Brüdern zum Zerwürfnis. Theo, der in einer Pariser Kunsthandlung arbeitet, die ihren Umsatz mit der angesagten Salonmalerei von Bouguereau oder Gérôme erzielt, favorisiert zwar die Impressionisten. Aber seine Chefs finden das kontraproduktiv, und so kann er nur im überschaubaren Stil etwas für die Modernen tun. Theo muss sich von Vincent als Parasit der Künste beschimpften lassen. So spitzt sich dieses Verhältnis zu und wird in der Kunstgeschichte immer wieder analysiert und kommentiert. Brief für Brief.
Die Schablone
vom allzu strengen
Elternhaus sitzt fest
Und sonst? Dem Rest der Familie ist meistens die Schablone vom strengen protestantischen Pfarrhaus übergestülpt, ohne zu bedenken, dass es Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu überall in Europa prüde und restriktiv zuging. Auch und gerade in den Niederlanden. Vincent hatte wahrscheinlich sogar Glück, obgleich er sich als ungeliebten Ersatz für das erste, totgeborene Kind - leider auch ein Vincent - von Anna und (Theo)Dorus van Gogh sah.
Diese Familie genauer unter die Lupe zu nehmen, macht also Sinn, und Willem-Jan Verlinden ist viele Jahre tief in die Archive und in die Sammlung des Van Gogh Museums in Amsterdam getaucht, hat Nachkommen befragt, Fotoalben gewälzt und Berge von Briefen studiert. 2016 erschien das Ergebnis "Die Schwestern van Gogh" auf Holländisch, eine deutlich erweiterte Ausgabe 2021 auf Englisch, und nun kommt am 3. April die deutsche Übersetzung unter dem Titel "Vincents Schwestern" auf den Markt. Bis die drei Mädchen aufkreuzen, dauert es allerdings.
Minuziös wird das Umfeld der Eltern in Den Haag ausgebreitet: die wohlhabende Buchbinder-Familie von Mutter Anna Cornelia Carbentus und die Kunsthändler- und Pastoren-Verwandtschaft des drei Jahre jüngeren Dorus van Gogh. Selbst die exakte Route der Hochzeitskutsche am 21. Mai 1851 von der Prinsegracht zur Kloosterkerk ist beschrieben. Und so entkommt dem Kunsthistoriker Verlinden wirklich kein Detail bei immerhin sechs Kindern und diversen Umzügen durch die verschiedenen Pfarrstellen von Zundert bis Nuenen.
Im eher armen katholischen Brabant zählen die van Goghs zur protestantischen Minderheit, man trifft sich vornehmlich innerhalb der Gemeinde, legt Wert auf Bildung und eine gute Erziehung. Doch bei aller Autorität bietet die Familie den Buben und Mädchen auch ein Nest. Mutter Anna kümmert sich liebevoll, Vater Dorus sieht in Einigkeit und Zusammenhalt die familiären Eckpfeiler, wie Verlinden betont. Und so gehen auf Reisen oder im Internat unendlich viele Briefe hin und her.
Die Geschwister sind eng miteinander, man macht sich gegenseitig Geschenke, hakelt sich, wie das Kinder tun, und rauft sich wieder zusammen. Zur Entfremdung Vincents von der Familie und vor allem vom Vater wird es erst viel später, an Weihnachten 1881 kommen. Doch das Aufwachsen im Hause van Gogh ist ein behütetes.
Für die Eltern steht außer Frage, dass sämtliche Kinder einen Beruf erlernen. Bei den Mädchen Anna (geb. 1855), Elisabeth oder Lies (1859) und Willemien, kurz Wil (1862), die auch Englisch und Französisch sprechen, führt das zu Anstellungen als Lehrerin oder Gouvernante. Alle drei können für sich selbst sorgen, und zumindest zwei versuchen, in ihrem Rahmen kreativ zu sein.
Wil ist Vincent sehr nah und kämpft wie er mit der Psyche
Die etwas exzentrische Lies schreibt Gedichte und wird mehrere Bücher veröffentlichen, darunter 1910 einen Band über Vincents Werk. Und Wil, die als Religionslehrerin arbeitet, engagiert sich für den sozialen Wandel. In Den Haag wird sie 1894 Mitglied im Damesleesmuseum, einem Bibliothekszirkel vornehmer Damen. Diese Literatur- und Gesprächsgruppe ist Teil der Frauenbewegung, die sich für das Wahlrecht sowie bessere Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten einsetzt.
In Briefen an die Geschwister äußert sich Wil einigermaßen frustriert über die weiblichen Perspektiven. Sie wäre gerne Schriftstellerin, zeichnet im Stil Vincents und steht ihm Modell. Die beiden sind sich besonders nahe, wechseln Briefe über Kunst und Literatur - und erkundigen sich regelmäßig nach ihrem Zustand, vor allem dem seelischen. Wil hat wie Vincent heftig zu kämpfen und wird drei Jahrzehnte bis zu ihrem Tod 1941 in einer psychiatrischen Anstalt verbringen.
Das alles ist durchaus spannend und befördert viel Unbekanntes aus dem Umfeld des Malers ans Licht, wenngleich man sich anstelle mancher Details etwas mehr Interpretation wünscht. "Vincents Schwestern" klingt zeitgeistig und kommt gut in einem Verlag, der sich auf "schöne Bücher für kluge Frauen" spezialisiert hat. Tatsächlich ist der Untertitel "Das bewegte Leben der Familie van Gogh" der passendere. Wobei die wichtigste "vierte" Schwester eine Schwägerin ist: Theos Frau Johanna (Jo) Bonger hat mit ihrem Kunstsachverstand Vincents Ruhm begründet.
Willem-Jan Verlinden: "Vincents Schwestern" (Elisabeth Sandmann Verlag, 304 Seiten, 32 Euro) erscheint am 3. April, heute, am 29. März 2023, 19 Uhr, Buchvorstellung mit dem Autor im Gespräch mit Verlegerin Elisabeth Sandmann (Luitpold Lab im Luitpoldblock, Salvatorplatz 4, Eintritt frei)