Kultur

Gestrandet und doch erlöst

Einer der aufwühlendsten und berührendsten Filme: Darren Aronofskys "The Whale" mit Brandan Fraser, der dafür den Oscar bekam


Die im Dunklen sieht man nicht: Brandan Fraser als Sprachprofessor, der sich aus Scham und dem Gefühl eines verpfuschten Lebens in seine Wohnung zurückgezogen hat. Dort hat er sich fast zu Tode gefressen. Aber dann treten noch einmal wichtige Menschen in sein Leben....

Die im Dunklen sieht man nicht: Brandan Fraser als Sprachprofessor, der sich aus Scham und dem Gefühl eines verpfuschten Lebens in seine Wohnung zurückgezogen hat. Dort hat er sich fast zu Tode gefressen. Aber dann treten noch einmal wichtige Menschen in sein Leben....

Von Adrian Prechtel

Wenn man am Ende des Films zwischen Tod und Erlösung mit Tränen kämpft, hat man zwei Stunden eines unglaublichen Kinoerlebnisses hinter sich und Charlies Appartementwohnung - bis auf eine Rückblende zu einem Strandurlaub mit seinem Freund - nie verlassen. Es geht um Scham und Schuld, Familie und Freundschaft, Verantwortung und Selbstverwirklichung, Menschlichkeit und Ekel - und keines dieser Spannungsverhältnisse kann völlig aufgelöst werden. Das ist klassische Tragik. Und durch die Intensität von Darren Aronofskys bekommen all diese großen Lebensbegriffe auch etwas mit einem selbst zu tun.


Aber alles kann menschlich gelindert werden, zeigt "The Whale". "Irgendwie ist jeder Mensch da, um zu retten", sagt Charlie zu seiner einzigen Bezugsperson, der befreundeten Krankenschwester Liz (Hong Chau). Sie lässt ihm die Würde der Selbstbestimmung, weiter Raubbau an sich zu betreiben, auch wenn sie ihm klar sagt, dass so seine Tage gezählt sind.

Und diese humane Botschaft stimmt versöhnlich. Auch wenn am Anfang der Zuschauer auf die Probe gestellt wird: Denn Brendan Fraser ist als Charlie nicht nur etwas fülliger. Er spielt - maskenbildnerisch Dutzende Kilo schwer aufgeblasen und trotzdem zu sensibelstem Spiel fähig - einen Mann, der sich in seiner Wohnung kaum mehr bewegen kann, was ein filmisches Kammerspiel erzwingt. Denn dieser Charlie wiegt fast 300 Kilo. "Abstoßend", wie ihm seine aggressive 16-jährige Tochter (Sadie Sink) ins Gesicht schleudert - und man gibt ihr zusammenzuckend in ihrer teeniehaften Radikalität erst einmal recht. Auch weil Charlie vor acht Jahren Frau und Tochter für einen jungen Mann verlassen hat, als die Tochter noch in einem besonders sensiblen Alter war.


Seit dem plötzlichen Tod seines Lebensgefährten hat Charlie sich einen Panzer gegen das schlechte Gewissen, die Scham und Trauer zugelegt - besser gesagt angefressen. Aber seine Figur ist auch so angelegt, dass wir sie nicht einfach wegschieben können: irgendwie liebenswürdig in seinen Schwächen, intelligent auch im zynischen Umgang mit sich selbst und gebildet: als Literaturprofessor, der nur noch Online-Unterricht gibt und auf seiner Bildschirmkachel am Monitor es schwarz lässt, aus Scham wegen seiner Fettleibigkeit, dabei aber seine Creative-Writing-Studenten zu größtmöglicher Ehrlichkeit und Authentizität anhält!

Das Drehbuch zu "The Whale" hat der Dramatiker Samuel D. Hunter aus seinem gleichnamigen Theaterstück entwickelt. Und auch das ist ein Meisterwerk - nicht nur durch eine Dichte an Anspielungen (wie auf Melvilles Klassiker "Moby Dick" oder den Wal als biblisches Tier), was oft auch unterbewusst auf den Zuschauer einwirkt.

Auch haben alle die Figuren, die in Charlies leben an der Tür treten, dramaturgisch und inhaltlich verschieden Funktionen und sind dabei doch unglaublich glaubwürdig, natürlich und echt: wie der evangelikale Missionar (Ty Simpkins), der - selbst in eine Lebenslüge verstrickt - die Frage nach dem Sinn des Lebens und Gott mitbringt. Oder die Tochter, die in ihrer Entwicklung Anerkennung braucht und hinter ihrer Lebensverzweiflung und Gekränktheit erst wieder sich selbst spüren und damit auch Liebegeben lernen muss. Und Charlies einzige Freundin Liz - als Vertreterin der Vernunft und Treue - ist selbst ein einsamer Charakter. "Ich glaube nicht, dass jemand einen anderen retten kann", hatte sie zu Charlie gesagt. Aber es ist genau ihre Zuwendung, die dann doch manche Lebenswunden lindern konnte.

Alle Eintretenden werden im Zusammenspiel mit Charlie Bewährungsproben und katalysatorische Momente für ihr eigenes Leben erleben, so dass am Ende auch Dankbarkeit steht - gegenüber dem Wal, der in seinem Leben gestrandet ist und dann doch wieder durchbricht in eine Schwerelosigkeit.

Adrian Prechtel

Kino: Sendlinger Tor, Rex sowie City, Leopold (auch OmU), Monopol (OmU) und Arri (auch OV) und Cinema, Museum (OV)
R: Darren Aronofsky
(USA, 117 Min.)