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Schwere Reiter: Caner Akdeniz beeindruckt mit seiner sportlichen Performance "Orakel"


Für das Foto noch heroisch gewappnet für eine Tour de Force, die er dann im weißen T-Shirt angehen wird: Caner Akdeniz in "Orakel".

Für das Foto noch heroisch gewappnet für eine Tour de Force, die er dann im weißen T-Shirt angehen wird: Caner Akdeniz in "Orakel".

Von Michael Stadler

Der Fernseher als Freund und alltäglicher Begleiter, als Lehrmeister und Alleinunterhalter. Auch heute kann man beobachten, dass Eltern ihre Kinder vor die Glotze setzen oder ans Smartphone lassen, um eine Atempause zu bekommen.

Das Fernsehpensum von Caner Akdeniz war offenbar sehr hoch: Im Programmblatt zu seinem Solo "Orakel" erfährt man, dass die Eltern des 1989 in Nürnberg geborenen Akdeniz im Drei-Schichten-Takt arbeiteten und der Fernseher "die Erziehungsaufgabe" übernahm.


Es lohnt sich, diese und andere Hintergrundinformationen vorab gelesen zu haben, um zu verstehen, was Akdeniz dann auf der Bühne des Schwere Reiter in seiner "Performance mit installativem Charakter" macht. In einem dunklen Raum sitzt das Publikum im Kreis. In der hellen Mitte tritt Caner Akdeniz in weißem T-Shirt auf. Er schnallt sich einen Gürtel um den Bauch und hievt mit Gurten ein kleines Fernsehgerät auf seinen Rücken. Das Gerät wiegt laut einer Leuchtanzeige 20 Kilogramm.

Eine auf den Boden projizierte digitale Stoppuhr, die auf 1 Stunde 30 Minuten steht, beginnt, rückwärts die Sekunden verstreichen zu lassen, als Akdeniz sich in Bewegung setzt. Mit dem Fernseher auf dem Rücken läuft er vor dem Publikum Runde um Runde. Wird er das neunzig Minuten lang durchhalten?

Aus den Lautsprechern des Fernsehers sind einzelne Szenen aus bekannten US-amerikanischen Filmen zu hören, vornehmlich aus den Achtzigern und Neunzigern, aber auch der "Taxi Driver" aus den 1970ern kommt zu Wort. Der Titel des jeweiligen Films wird auf dem Bildschirm eingeblendet, es gibt keine Bilder zu sehen.

Der laufende, schleppende, zunehmend schwitzende Performer steht optisch im Mittelpunkt. Und die Tonspuren reichen schon aus, um auch beim Publikum Erinnerungen auszulösen.

Der Fernseher als Ballast auf den
Rücken geschnallt

Der Replikant Roy Batty aus "Blade Runner" hält da seinen berühmten Sterbemonolog, Zukunftsrebell Neo bekommt erklärt, dass auch er ein Sklave der "Matrix" sei, und Rocky erklärt seiner Adrian: "Wenn ein Mann nicht an sich selbst glaubt, ist es aus."

Gerade Sylvester Stallone ist oft zu hören, in der dumpf klingenden deutschen Synchronfassung. Stallones Filme, von "Rocky" bis "Rambo", hat der kleine Caner Akdeniz offenbar wiederholt gesehen, zudem Blockbuster wie "Terminator" und "Titanic".

Die Filme lieferten ihm Idealbilder von Elternschaft, Männlichkeit und romantischer Liebe, während seine Eltern wohl bei der Arbeit waren. Für seine Laufrunden hat Akdeniz geschickt Dialogzeilen ausgewählt, in denen Väter ihre Söhne aufmuntern (Stallone in "Over the Top") und die amerikanische "Du schaffst es!"-Mentalität dem Zuhörer schnörkellos eingebläut wird. Die Motivationsreden auf der Tonspur scheinen den Neuzeit-Sisyphos mit dem TV-Gerät auf dem Rücken anzuspornen. Auch die Musik von "Rocky" puscht ihn vorwärts - und einige auf Türkisch gesungene Hits, etwa von dem Duo Derdiyoklar, das in den Achtzigern gerade bei den türkischen Familien in Deutschland sehr beliebt war.


Akdeniz singt im Laufen mit, und so leicht hier kulturelle Identitäten ineinander übergehen, so schwer wiegt doch auf Dauer die Last der Populärkultur, die er sich selbst in jungen Jahren eingeflößt hat. Typen wie Rocky - der Mann aus der Arbeiterklasse, der es ganz nach oben schafft - mögen dem Jungen aus der "migrantischen" Familie orakelhaft die Zukunft gewiesen haben, aber solche Vorbilder sind letztlich auch belastend. Klassenunterschiede werden schmerzhaft thematisiert. Zum Beispiel demütigt Anthony Hopkins als Hannibal Lecter die von Jodie Foster gespielte FBI-Agentin, indem er ihr klarmacht, dass ihre ursprüngliche Nähe zum "White Trash" weiterhin in ihrem Akzent durchdringt.


Man kann nun mal nicht vor seiner Vergangenheit davonrennen. Sie hängt an einem wie der Fernseher, den Akdeniz mit sportlichem Ehrgeiz schleppt. Es ist eine anrührende, mitreißende Tour de Force, die manchen Zuschauer dazu animiert, ihn anzufeuern und Hilfe anzubieten. Akdeniz nimmt sie nicht an. Er will mit seinem verwegenen Solo offenbar auch vorführen, dass irgendwann die Kraft nachlässt und es vielleicht gar nicht schlecht ist, wenn man aufgeben und sein Gepäck absetzen muss.

Damit ist nichts verloren. Im Gegenteil: Caner Akdeniz ermöglicht mit seiner Performance einigen Erkenntnisgewinn. Vor allem über das, was Menschen mit, aber auch ohne "Migrationshintergrund" an vorgefertigten Bildern und Träumen in sich tragen.