Kultur

In den Briefkasten pinkeln

Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?" ist ein Schlüsselroman über #MeTooin der Medienbranche


Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre.

Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre.

Von Robert Braunmüller

So viel Geheimnistuerei war zuletzt selten um ein Buch. Verlagsmitarbeiter schwiegen eisern über die Handlung von Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?". Die üblichen Vorab-Exemplare wurden nicht verschickt, Rezensenten mussten ihre warmen Stuben verlassen, um am Erscheinungstag frühmorgens in den Bahnhofsbuchhandlungen die frisch eingetroffenen Kartons aufreißen zu lassen. Ein Schlüsselroman sei es, der die #MeToo-Affäre um den ehemaligen "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt erzähle. Und vom Zerbrechen der Freundschaft zwischen dem Autor und dem Springer-Oberboss Mathias Döpfner.

Genau darum geht es. Stuckrad-Barre hat sich keine Mühe gegeben, die Figuren groß zu tarnen. Natürlich gibt es auf Seite 1 den üblichen Disclaimer, dass es sich um einen Roman handle. Unter den zahlreich auftretenden Nebenfiguren der Zeitgeschichte findet sich auch Julian Reichelt. Damit wird etwas fadenscheinig, aber juristisch wohl unangreifbar so getan, als sei die Hauptfigur jemand anderer. "Bild" ist in dem Roman ein krawalliger Fernsehsender, den diese Zeitung tatsächlich auch betreibt. Und man muss offline in der Wüste leben, um das Medien- und Technologieunternehmen Axel Springer samt seinem Chef nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

sized

Der Romans "Noch wach?" von Benjamin von Stuckrad-Barre in einer Buchhandlung.

sized

Da waren sie noch Freunde: Benjamin von Stuckrad-Barre (links) mit Springer-Chef Mathias Döpfner (rechts).

Auf den ersten Seiten begleitet der namenlose Ich-Erzähler als Hofnarr den ebenfalls namenlosen Vorstandsvorsitzenden auf dessen in Medienkreisen legendäre Reise nach Kalifornien. Stuckrad-Barre macht sich über das übliche Unternehmensberater- und Modernisierungsgelaber lustig. Der fiktive Mathias Döpfner ist ein charismatischer Schwätzer, der vom Internet nicht die geringste Ahnung hat und beim Besuch des ewig kichernden Elon Musk auf der Baustelle der neuen Unternehmenszentrale zu blöd ist, mit dem Smartphone selbst ein Video aufzunehmen.

Nach dem ersten Drittelwird's ernster. Der Ich-Erzähler gewährt einer jungen Journalistin Unterschlupf, die eine Affäre mit dem sexistischen Chefredakteur des Krawallsenders hat. Sie solidarisiert sich mit anderen Opfern, die sich lieber "Belastungszeuginnen" nennen. Ein in München ansässiges Magazin, das Stuckrad-Barre liebevoll nach der untergegangenen Zeitgeist-Postille "TransAtlantic" benannt hat, bekommt Wind davon. Ein internes Compliance-Verfahren wird eingeleitet, ehe - anders als im Fall Reichelt - die Geschichte im Sand verläuft und vom unangreifbaren Chefredakteur als linke Zeitgeist-Verschwörung abgetan wird.

Stuckrad-Barres Ich-Erzähler, als Besucher von Selbsthilfegruppen und Ex-Alkoholiker mit dem Autor sicher nicht unverwandt, reflektiert über die #MeToo-Affäre, wie man es als moderner aufgeklärter Mann tut: Er versucht, sich an die Maxime zu halten, die Rose McGowann ihm in Monica Lewinskys Memoiren geschrieben hat: "Wenn sie sich Dir anvertrauen - sei kein Arschloch." Das gelingt dem Erzähler halbwegs.

Er misstraut dem Missbrauch von Macht für sexuelle Avancen zutiefst, behält sich aber eine Rest-Skepsis gegenüber Aufarbeitung solcher Fälle, die immer "so anstrengend, so verworren und treibsandig" bleiben.

In einem mit "Jetzt wird's schmutzig" überschriebenen Kapitel sollte niemand schlüpfrige Details erwarten: Das Buch bleibt geradezu tantenhaft keusch. Der einer Sause unter Kerlen nicht abgeneigte, aber seltsam asexuelle Ich-Erzähler kultiviert als durchaus hedonistisch orientierter Mann eine Äquidistanz zwischen dem aufgeregten Feminismus und den Exzessen des ihm grenzenlos unsympathischen Chefredakteurs. Dass er einmal in dessen Briefkasten pinkelt, lässt sich als symbolische Geste der Macht- und Ratlosigkeit des Einzelnen deuten.

Das ist so ehrlich wie lauwarm. In diesem Zwischenbereich bleibt auch die Medienkritik stecken: Stuckrad-Barre regt sich zwar mächtig darüber auf, dass der Krawallsender ständig von "wir" und "Deutschland" spricht, wenn er lediglich eine Einzelmeinung vertritt. Das ist geradezu ein roter Faden des Romans. Aber zu mehr als dem wütenden Ausbruch, der Chefredakteur möge das mal mit einer Therapeutin eingehend erkunden, reicht es nicht: Über Strukturen schweigt sich dieses Buch absichtsvoll aus. Die analytische und psychologische Schärfe von Rainald Goetz' Unternehmer-Roman "Johann Holtrop" erreicht Stuckrad-Barre nicht einmal ansatzweise, dafür ist das Buch zu verspielt und mit den vielen schreienden Halbsätzen in Großbuchstaben selbst zu boulevardesk.

Zwiespältig bleibt auch der Rahmen: Zwar macht sich der Erzähler über den Amerika-Fimmel des Vorstandsvorsitzenden lustig, gleichzeitig fungiert das legendäre Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard in Hollywood als verklärter Sehnsuchtsort. Und was dort auf den letzten Seiten passiert, reicht zuletzt Döpfner versöhnend die Hand. Weshalb die befürchteten Klagen gegen Stuckrad-Barres Roman eher unwahrscheinlich scheinen.

Wirklich Neues ist über Springer-Interna und #Meetoo gibt es nicht zu erfahren: Die in der "Zeit" veröffentlichten Döpfner-Chats sind der brisantere Medien-Roman. Wenn der Springer-Chef stürzt, dann sicher nicht wegen dieses letztendlich viel zu kumpelhaft geratenen Romans. Und ob das recht weitschweifige Sittenbild für Leser außerhalb der Medienblase interessant ist, darf auch bezweifelt werden.

Benjamin von Stuckrad-Barre: "Noch wach?" (Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 25 Euro)