Interview mit Autor aus Norwegen
Jørn Lier Horst: „Es geht um die großen Themen“
16. Oktober 2019, 7:00 Uhr aktualisiert am 16. Oktober 2019, 9:02 Uhr
Der 49-Jährige Jørn Lier Horst gehört zu den erfolgreichen Krimiautoren aus Norwegen. Mit idowa hat er über aktuelle Trends in der norwegischen Literatur und über die Erfahrungen aus seinem vorherigen Beruf als Kriminalhauptkommissar gesprochen - und darüber, weshalb er Whisky-Flaschen-Ermittler in Romanen nicht mag.
Das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse (ab Mittwoch, 16. Oktober, 9 Uhr) ist Norwegen. Ein Krimi-Autor aus dem Land ganz im Norgen Europas, Jørn Lier Horst, gibt im Interview einen Einblick in die literarische Kultur seines Landes - und zwar aus dem Blickwinkel eines Krimiautors. Lier Horst hat im Rahmen seines Schaffens bereits mehrere Krimipreise gewonnnen.
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Ich weiß, dass diese Frage kaum, vor allem nicht kurz, zu beantworten ist. Dennoch möchte ich sie stellen, da die deutsche Leserschaft wenigstens in Teilen mit der Literatur Norwegens wenig vertraut sein dürfte. Was macht Werke aus Norwegen unverkennbar? Gibt es in aktuellen Texten eine bestimmte Grundstimmung, eine bestimmte Positionierung oder Perspektive?
Jørn Lier Horst: Ich muss diese Frage aus der Perspektive der Kriminalliteratur heraus beantworten, da das mein Genre ist. Allerdings glaube ich, dass meine Antwort durchaus auf einen größeren Teil der norwegischen Literatur zutrifft - möglicherweise weil aktuelle Werke der Tendenz folgen, die Grenzen zwischen den Genres abzubauen. Kriminalromane aus den skandinavischen Ländern tragen ja häufig die Genre-Bezeichnung "scandic noir”. Es erscheint mir als Autor aus der Region schwierig zu begründen, dass geographische Grenzen eine solche kollektive Bezeichnung rechtfertigen sollen. Vor allem weil Kriminalromane und Thriller, die in dieser Ecke der Welt geschrieben werden, eine extrem große Bandbreite im Hinblick auf Form und Inhalt aufweisen. Sie sind alle sehr unterschiedlich hinsichtlich Setting, Charakteren, Sprache, Plot und Handlung. Dennoch empfinden sie aber Leser außerhalb der skandinavischen Länder häufig als ähnlich. Klar ist, dass wir eine Region mit gemeinsamer Geschichte und Traditionen sind, außerdem gibt es Gemeinsamkeiten etwa bei den gesellschaftlichen Strukturen, beim Sozialwesen, den politischen Strukturen und dem Koordinatensystem der Werte. Das macht es dann schwierig, besondere Kennzeichnen norwegischer Literatur in Abgrenzung zur Literatur aus anderen skandinavischen Ländern zu benennen. Norwegische Literatur hat möglicherweise aber etwas an sich, das sich nicht definieren lässt, einen bestimmten erzählerischen Stil, der von der Dunkelheit des Winters, der Mitternachtssonne und der ausgedehnten, kargen Landschaft geprägt ist.
Welche Trends gibt es derzeit in der Literatur Ihres Heimatlandes?
Lier Horst: Einer der klaren Trends in Norwegen ist "virkelighetslitteratur". Das lässt sich frei als "Realitätsfiktion” übersetzen. Die Bezeichnung umfasst Werke, die tatsächliche Geschehnisse und Menschen aus dem Leben des Autors beschreiben, oftmals ohne größere Veränderungen bei den Namen oder den anderen faktischen Informationen. Dieser Trend begann mit Karl Ove Knausgaard. Die Grenzen der Form werden hier teilweise verschoben, immer wieder gibt es Diskussionen darüber, wie weit Autoren gehen können. Zu diesem Trend passt auch, dass es ein großes Interesse an Biographien gibt. Auch hier gilt, dass die Schriftsteller Grenzen immer wieder überschreiten. Mit privatem Quellenmaterial werden Nahaufnahmen von berühmten Personen gezeichnet.
Hinter das Absperrband
Wieso ist das so? Ist die Realität in unserer Zeit interessanter als die Fiktion?
Lier Horst: Wahre Kriminalfälle, Dokus und Erzählungen über reale Morde und Vergehen sind der internationale Trend im Krimigenre, egal ob in Buchform oder in Form von Radio-Hörspielen, Podcasts und natürlich in TV-Formaten. Zu sagen ist, dass Populärkultur aber immer schon von der Realität beeinflusst war. Eines von Edgar Allan Poes frühen Kriminalstücken basierte auf den bestialischen Morden von Mary Cecilia Rogers in New York im Jahr 1841. Der Serienmörder "Jack the Ripper” beeinflusste unter anderem das Werk von Arthur Conan Doyle. "Der Graf von Monte Christo” fußt auf einer wahren Geschichte, die Alexandre Dumas in den Archiven der Pariser Polizei fand. Der Grund für die Beliebtheit dieser Form hängt vielleicht damit zusammen, dass die Menschen gerne das verstehen würden, was ihnen selbst fremd ist, was normalerweise verborgen bleibt. Im Genre der wahren Kriminalfälle werden wir vorgelassen in Bereiche, die uns in der Regel verschlossen bleiben. Wir kommen in den Bereich hinter den Polizei-Absperrungen, wir verfolgen die Überlegungen des Anwalts zur Strategie, wir erhalten einen Einblick in die Gedankenwelt eines Täters und die Angst des Opfers. Der konventionelle Kriminaltext adressiert die gleichen Wünsche, aber im Genre der wahren Kriminalfälle fühlen sich viele Leser noch etwas näher am Geschehen. Und das erhöht den Puls dann noch etwas mehr. Das was wir lesen, könnte nicht nur so passiert sein, vielmehr ist es möglicherweise genau so passiert. (…) Und dann ist noch zu sagen, dass im Umfeld eines Verbrechens oftmals auch die großen Themen des Lebens an die Oberfläche kommen: Liebe und Hass, Betrug und Gerechtigkeit, Schuld und Sühne.
Sie waren nicht immer schon Autor, sondern haben früher als Polizist in der Provinz Vestfold gearbeitet. Lassen Sie Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit in Ihre Bücher einfließen?
Lier Horst: Definitiv. Mein Hintergrund als leitender Ermittler in der Kriminalabteilung ist meine Stärke als Autor. Diese Arbeit hat es mir erlaubt, hinter die Absperrbänder zu gehen und die Spuren von schweren Verbrechen zu sehen. Die Überbleibsel eines unerbittlichen Kampfes sehen, in verschlossene Räume gehen, die ein Geheimnis beinhalten - in solche Situationen möchte ich die Leser bringen. Ich habe als Polizist mit den Opfern von Straftaten, mit Verwandten oder Überlebenden gesprochen. Und über viele Jahre war es meine Aufgabe, mit den Tätern zu sprechen, sie zu befragen. Ich habe also aus nächster Nähe Wut, Trauer und Verzweiflung erfahren, und diese Erfahrungen lasse ich in meine Bücher einfließen. Das schafft Nähe und Authentizität und ist das, was meine Leser schätzen, denke ich. Das Gefühl eines "wahren Verbrechens”. Mein aktueller Roman, "Wisting und der Tag der Vermissten", ist von einem "cold case” aus meiner Zeit als Ermittler beeinflusst.
Was war das für ein Fall?
Lier Horst: Um sechs Uhr abends am 5. August 1999 ging die zwölfjährige Kristin Fahrradfahren. Sie kam niemals zurück. Ein Suchtrupp durchforstete die Gegend um das kleine Dorf Mork. Nachbarn, Freunde und die Familie suchten die Wege, Wiesen, Schluchten und Flüsse ab. Schließlich wurde die Leiche des Mädchens gegen Mitternacht am Tag ihres Verschwindens gefunden. Über die nächsten drei Jahre habe ich beinahe meine gesamte Arbeitszeit darauf verwendet, den Killer von Kristin zu finden. Der erste Verdächtige war ein Mann mit einer psychischen Erkrankung, der in dem Dorf auf einem Motorrad gesehen worden war. Aber als wir auf neue Fakten stießen, änderte sich die Richtung der Ermittlungen. 2001 nahmen wir dann einen 24-Jährigen in Stockholm fest, aber es waren nicht genügend Beweise vorhanden, um ihn zu verurteilen. Der Mord an Kristin ist die Art von Fall, die einem immer wieder ins Gedächtnis kommt, bei dem man immer wieder die Details wälzt, um eine Antwort zu finden. Solche Fälle verursachen eine mentale Narbe, die nicht heilt und die sich entzündet. Kristins Vater und ich sind über die Jahre in Kontakt geblieben, auch als ich nicht mehr bei der Polizei war. Am Jahrestag des Mordes habe ich ihn regelmäßig besucht. Er hat es nie aufgegeben, den Killer zu finden. Und wir haben unsere Untersuchung weitergeführt, haben sogar einen Hellseher kontaktiert. Kurz vor Mitternacht am 8. Juli 2015 hat er angerufen, um mir zu sagen, dass die Polizei jemanden verhaftet habe. Neue Ermittlungstechniken machten es möglich, auf den Nägeln von Kristin DNA-Spuren sicherzustellen, die auf einen Mann passten - auf den gleichen Mann, den wir bereits 2001 vor Gericht verurteilen lassen wollten. Im Sommer 2016 traf ich diesen Mann ein zweites Mal im Gericht. Er ist mittlerweile verurteilt. Mein aktuelles Werk ist nun keine Geschichte über den Mord an Kristin, sondern darüber, neue Ermittlungen in alten Fällen anzustrengen. (…)
Polizisten mit Kater?
Was mögen Sie an Ihrem Protagonisten, William Wisting?
Lier Horst: Als ich mich vor beinahe 13 Jahren daran machte, einen neuen norwegischen Krimihelden zu erschaffen, war mir sehr bewusst, wie er aussehen sollte. Ich war es leid, über Polizisten zu lesen, die ganz alleine und völlig betrunken oder mit einem gewaltigen Kater die Fälle lösen, Protagonisten, die jeden Tag mit einem Drei-Tage-Bart aufwachen und eine Whisky-Flasche auf dem Nachttisch stehen haben. Ich wollte einen Ermittler, der mehr so war, wie die Polizisten, die ich aus meiner Arbeit kannte. Und so ein Charakter wurde Wisting. Was ich an ihm mag, ist, dass er normal ist. Er hat sich natürlich auch im Laufe der Zeit verändert. Ich will nicht nur erzählen, wie er Fälle löst, sondern auch, was die Fälle mit ihm machen.
Welche norwegischen Autoren lesen Sie selbst gerne?
Lier Horst: Autoren wie Karin Fossum, Agnes Ravatn und Gunnar Staalesen stehen mit ihren Texten sicherlich weit über der üblichen Prosa. In ihren Arbeiten finden sich kraftvolle literarische Bilder, sprachlich dichte und überzeugende Dialoge sowie sprachliches Feingefühl, das für ein großartiges Leseerlebnis sorgt.
Was erwarten Sie sich von der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt?
Lier Horst: Ich habe über 50 Bücher geschrieben und werde seit 2005 ins Deutsche übersetzt - und doch ist es in diesem Jahr mein erster Besuch in Frankfurt. Ich freue mich darauf und bin gespannt, was mich erwartet.
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Das Interview wurde in englischer Sprache geführt und anschließend übersetzt. Der aktuelle Roman von Jørn Lier Horst, "Wisting und der Tag der Vermissten", ist auf deutsch bei Piper erschienen.