Alte Kongresshalle
Judith Holofernes reißt vom Hocker
18. November 2018, 19:33 Uhr aktualisiert am 18. November 2018, 19:33 Uhr
Chaotische Seele, ordentlicher Rock: Judith Holofernes in der Alten Kongresshalle
München - Wer sich zum Chaos bekennt, dem kann eigentlich nicht mehr viel passieren, auch in einem Konzert nicht. Schließlich enthebt man sich damit dem Anspruch, dass alles perfekt sein muss, darf Fehler machen, Aussetzer haben und kann sich getrost im Durcheinander der Musikgeschichte bedienen, weil die Melodien sich sowieso aneinander schmiegen und richtig Neues kaum mehr entstehen kann.
Wenn Judith Holofernes und ihre Band ihr Konzert in der Alten Kongresshalle mit "Freude schöner Götterfunken" beginnen, ist das zwar als Zitat reichlich abgehangen, aber die diebische Sängerin hat nicht nur den Text geschickt dem Kleinfamiliären anverwandelt - "Freude schöner Götterfunken, Tochter, mach' dein Physikum. Wir betreten feuertrunken Eigenheim, oh Eigentum!" -, sondern lässt den guten alten Beethoven auch dank Bass, Beats, Gitarre und Mehrfachgesang gekonnt in den guten alten Indie-Pop gleiten. An nichts oder alles "oder an die Freude" sollte man sein Herz hängen, was vage klingt, doch zumindest die Reimkunst der Bardin aus Berlin ist weiterhin eine sichere Bank.
"Ich bin das Chaos" heißt ihr zweites Soloalbum, das sie in enger Zusammenarbeit mit dem Singersongwriter Teitur von der schwedischen Insel Farö geschrieben und produziert hat. Nachdem sie 2012 mit ihrer Band "Wir sind Helden" eine Pause auf ungewisse Zeit eingelegt hat, ist Holofernes als Solokünstlerin selbst zu einer Insel geworden, die aber keine einsame ist, sondern eine gute Band im Treibsand neben sich hat, die mit ihr ziemlich ordentlichen, wenn nicht etwas braven Rock hinlegt.
Auf der Suche nach der sicheren Form
Kleine Turbulenzen können dennoch schnell entstehen: Dass die Alte Kongresshalle für das Konzert bestuhlt wurde, sei ein Missverständnis gewesen, erklärt Holofernes, "bestuhlt finde ich ein bisschen be…stuhlt." Die Ansage reißt das Publikum sofort von den Sitzen, und es lässt sich ja auch wunderbar tanzen zu den zahlreichen Uptempo-Nummern, deren Refrains bevorzugt auf einzelnen Phrasen insistieren. Was ein gewisses Garagenrockgefühl erzeugt, eine Erinnerung an Zeiten also, als man rotzig seine Teenagerwut in kurzen Schreien kanalisierte: "Ich bin Nichts! Nichts! Nichts! Nutz! Nutz! Nutz!" singt Holofernes bei "Nichtsnutz". Und: "Ich hab genug, genug, genug!" bei "Danke, genug!".
In ihrem legeren Jumpsuit kann sie sich frei bewegen und wirkt zum Münchner Auftakt ihrer Tournee so, als ob sie noch ein bisschen auf der Suche nach der sicheren Form ist. Insgesamt geht das Konzert mit seinen eineinhalb Stunden allzu schnell vorbei. Wo ist da der Exzess, die Lust an ausufernden Momenten? Schöne Lieder gibt es dennoch einige, auch ein paar aus Helden-Zeiten streut Holofernes ein: "Sag mal, ist das so?" hüpft munter wie eh und je, und plötzlich merkt man, dass es immer wieder um leidige Kommunikationsprobleme geht.
Kompliziertes Miteinander
"Sarah, sag was" empfiehlt sich als neuer Hit, der von letzten Rettungsbemühungen um eine Beziehung handelt und dem live nur die Streicher vom Album fehlen. Bei "Hasenherz" teilt sie die Zuschauer in zwei Gruppen ein: Die Männer singen "Sag, was du meinst", die Frauen "Mein, was du sagst." Ja, so verflixt kompliziert ist das Miteinander.
Den Kontakt zum Publikum stellt Holofernes ohne Mühen her, schon allein, wenn sie bei einem Textaussetzer in die Runde lächelt. Die neuen Lieder und die alten werden durch ihre Stimme verbunden, die immer noch so klingt, als ob sie einem etwas Schokolade anbietet, die aber zartbitter schmecken kann.
Die Basslinie tastet sich bei "Bist du müde?" abwärts, und am Ende lässt Holofernes gar traurig schön den "letzten Optimisten" am Boden liegen: "Nicht ist so trist wie ein Optimist, mit der Nase am Boden, der sagt, mir ist nicht kalt, ich bleib hier liegen, ich bleib hier liegen…"
Die Fans aber, sie tanzten die ganze Alltagsmelancholie weg und ließen sich buchstäblich vom Hocker reißen.
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