Kultur
Kein Wecker und kein Therapeut
30. Januar 2023, 16:50 Uhr aktualisiert am 31. Januar 2023, 10:40 Uhr
Zur vereinbarten Zeit am späten Vormittag geht Bernd Begemann nicht ans Telefon. Knapp drei Stunden später ruft er zurück und entschuldigt sich höflichst: Er habe verschlafen. Ein neuer Termin wird ausgemacht, und am nächsten Tag...
AZ: (Das Telefon läutet in Hamburg an)
BERND BEGEMANN: Hallo. Völlig auf Draht diesmal!
Herr Begemann, ich finde es lustig, dass Sie gestern verschlafen haben. Schließlich heißt einer ihrer besten Songs "Unoptimiert".
Genau. Ich lebe den Traum.
Mit diesem Song haben Sie - den Abrufzahlen zufolge - einen Nerv getroffen. Mit Blick auf Selbstoptimierer singen Sie: "Hab ich den Arschlochwettbewerb verpasst?".
Ist doch so! Ich find's toll, wenn Leute sich verbessern wollen, aber haben Sie schon mal die Leute gesehen, nachdem sie gejoggt sind? Diese völlig verwirrten Gesichter? Ich will niemand runtermachen, der sich selbst verbessern will. Aber da ist so viel Verkrampfung in dem, was Menschen tun - und das tut ihnen unterm Strich nicht gut.
Und Sie als Songwriter leben anders?
Ich habe das Privileg, ein Leben ohne Wecker führen zu dürfen. Daran habe ich auch schwer gearbeitet. Als ich das erste Mal in die Grundschule gegangen bin und es draußen dunkel war, dachte ich: Das darf doch nicht wahr sein, dass ich mit sechs Jahren nicht im Bett liegen bleiben darf und in die Dunkelheit raus muss! Wenn ich älter bin, mache ich das auf gar keinen Fall!
Hat geklappt.
Ich hatte erst so 120 Jobs, bis ich professionell Musik machen konnte, da bin öfter mal nachts aufgestanden und habe irgendwelche Säcke am Hamburger Hafen umher geschleppt. Aber mein Plan war immer, dass ich eines Tages keinen Wecker hören muss. Dafür wache ich manchmal mit dem Terror auf: Himmel, muss ich heute nicht in Regensburg spielen?
Oder, wie am Freitag, in München.
Nichts brennt so heiß wie die heimliche Liebe zwischen Hamburg und München. Auch wenn Berlin jetzt leider zwischen uns gekommen ist - die Stadt, bei der wir beide froh sind, dass wir da nicht leben müssen.
Was ist für Sie als Hamburger das Liebenswerte an München?
Das ist dieses alte Werner-Enke-Schwabing, dieses Man-muss-es-locker-nehmen-Feeling. Das ist vielleicht ein Mythos, aber er ist für uns Norddeutsche einladend.
Sie kommen ursprünglich aus der westfälischen Kleinstadt Bad Salzuflen. In Ihrem Lied "St. Pauli hat uns ausgespuckt" singen Sie: "Ich bin ein Kleinstadtboy". Prägt das für immer?
Im Guten wie im Schlechten. Ich kann nicht so groß träumen - zum Beispiel, dass ich in einer Villa leben müsste. Was für ein Alptraum! Ich lebe in einer Drei-Zimmer-Wohnung und das finde ich schon fast zu groß. Ich habe kleine, bescheidene Träume.
Laut dem besagten Lied liegt diese Drei-Zimmer-Wohnung nicht mehr auf St. Pauli.
Leider. Das liegt unter anderem an der kompletten Verballermannisierung der Reeperbahn. Menschen aus ganz Deutschland, die sich in ihrem Heimatort nicht mal trauen, bei Rot über die Fußgängerampel zu gehen, haben da am hellichten Tag ihre Notdurft vor unserer Haustür entrichtet und sich super gefühlt. Das war kein Leben. Ich hatte zu der Zeit eine kleine Tochter und wollte nicht, dass sie so etwas Hässliches sieht.
Sie haben in den Achtzigern die Hamburger Schule mitbegründet, waren erst mit "Die Antwort" unterwegs und dann solo. Ist es für intelligente Popmusik seit Ihren Anfängen leichter oder schwerer geworden?
Für mich persönlich ist das Leben immer leichter geworden, weil ich immer weniger Sachen brauche. Ich mag aber auch gern stumpfe Popmusik. Das erste Mal hat mich Popmusik umgehauen, als ich in den Kindergarten ging. Da lief im Küchenradio meiner Mutter der 60er-Jahre-Hit "Baby Baby Balla Balla". Und ich dachte als Vier- oder Fünfjähriger: Dieses Lied spricht direkt zu mir! Ich dachte, dieser Sänger versteht mich, er weiß um das Geheimnis des Lebens selbst. Nichts gegen Stumpfheit, sie muss nur intelligent appliziert werden. Ich musste sehr viel lernen, um so primitiv zu werden, wie ich jetzt bin.
Ihr Publikum ist aber sicherlich überdurchschnittlich gebildet und würde "Baby Baby Balla Balla" nicht so gut hinnehmen.
Mal schauen. Ich probiere das auf alle Fälle mal.
Vielleicht in München?
Wenn mich der Ruf ereilt, werde ich mich nicht scheuen.
Sie sagten, dass sie immer weniger brauchen. Was ist weggefallen?
Anerkennung von Idioten. Das ist der wichtigste Punkt. Wenn man das aus seinem Leben verbannt, ist man fast schon frei. Was ich aber wirklich brauche, sind die Abende, an denen ich singe und die Leute mir zuhören. Abende, an denen ich es schaffe, Menschen in meine Welt zu ziehen. In dem Augenblick habe ich einen Platz in der Welt. Das war meine Art, all die Jahre zu überleben. Das ist auch der Grund, warum ich als einziger Hamburger Kreativer nie in Therapie war, möglicherweise sogar als einziger Kreativer in ganz Deutschland. Konzerte zu geben ist so viel besser als irgendein Typ, der Dich fragt: Wie fühlen Sie sich dabei? Dann lieber "Baby Baby Balla Balla" vor einer Handvoll Wildfremden singen!
Sie wirken total zufrieden.
Das Leben ist so schön. In einem freien, friedlichen Land mit vollen Regalen zu leben, halbwegs gesund zu sein - was für ein Privileg! Seit ich mich erinnern kann, sind um mich herum Leute, die meckern. Und ich dachte immer: Hört auf, mich voll zu heulen! Das denke ich nach wie vor bei 95 Prozent aller Singer-Songwriter. Diese ganzen Scheinprobleme, die sie haben, diese wohlfeile Tristesse, die nicht auf echtem Leid basiert: Das sind so sinnlose Übungen. Ich versuche, mein Publikum von so etwas fernzuhalten. Wenn man es nicht schafft, Freude zu verbreiten, sollte man nicht auf eine Bühne.
Pasinger Fabrik (Wagenhalle), Freitag, 20 Uhr, Karten für 26,70 Euro unter Telefon 54 81 81 81