Kultur
Mit Ruhe durch unsichere Zeiten
1. Januar 2022, 16:45 Uhr aktualisiert am 2. Januar 2023, 10:49 Uhr
Nach zwei Neujahrskonzerten, die pandemiebedingt in einem leeren beziehungsweise mit ausgedünntem Publikum besetzten Saal stattfanden, sind heuer die Reihen des Wiener Musikvereins erstmals wieder gefüllt. Dass deshalb alles in Ordnung sei, wird angesichts der Weltlage dennoch niemand behaupten: Die Polizei musste sechs Klimaaktivisten aus dem Gebäude entfernen, die nach Angaben einer Sprecherin dort wohl eine Störaktion mit Sekundenkleber geplant hatten.
Der diesjährige Dirigent Franz Welser-Möst zitierte beim Neujahrsgruß mit leicht melancholischem Tremolo auf Englisch Friedrich Nietzsches Satz "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum". Er lässt auch bei den traditionellen Zugaben keine übermütige Stimmung aufkommen: Der "Donauwalzer" von Johann Strauß Sohn dreht sich schwunglos, der Radetzky-Marsch vom Vater zieht ohne Schneid vorbei. Mal sehen, ob das nächstes Jahr anders wird, wenn der Preußen-Fan Christian Thielemann wieder am Pult steht.
Diese finalen Anflüge von Müdigkeit sind aber schon das Einzige, was das kritische Bewusstsein des am Fernseher lauschenden Betrachters erwachen lässt. Im Großen und Ganzen hätten die Wiener Philharmoniker keinen Dirigenten finden können, der besser zu diesen unsicheren Zeiten passt.
Vornehm ergraut und mit einer seriösen Brille, wie sie vor hundert Jahren auch der komponierende Wiener Philharmoniker Franz Schmidt getragen hat, strahlt Welser-Möst vor allem Ruhe aus. Allein das heißt schon etwas bei einem Konzertereignis, das von einem Millionenpublikum in über hundert Ländern an heimischen Endgeräten gehört und gesehen wird.
Dem gebürtigen Linzer, Anfang sechzig und bereits zum dritten Mal dabei, steigt dieser globale Hype nicht zu Kopf. Beim Einsatz zum Walzer "Heldengedichte" von Josef Strauß fängt er die Wiener Philharmoniker mit einladend ausgebreiteten Armen auf. Die wenigen Musikerinnen und vielen Musiker nehmen sich Zeit und entwickeln mit dicht webenden Streichern und schmelzenden Klarinetten eine wahrhaft symphonische Einleitung. Sie könnte so auch bei Ludwig van Beethoven stehen; das schwerelose orchestrale Baiser des darauf folgenden Walzers eher nicht.
In der Luft schwebende Tempo-Übergänge, bei denen, wie in der Ouvertüre zur Operette "Isabella" von Franz von Suppè, jeder Abweichler hervortreten würde, gibt Welser-Möst wie nebenbei. In den schnellen Polkas "Frisch heran!" von Strauß Sohn und "Auf und davon" von Bruder Eduard zeichnet er den Takt mit eleganten Bewegungen vor, was eine Bewegungsart etabliert, die weder hektisch noch schwerfällig ist.
Ein Klangzauberer, das zeigt der Walzer "In lauschiger Nacht" von Carl Michael Ziehrer, ist Franz Welser-Möst nicht. Hier könnte man sich die Flöten noch suggestiver vorstellen, gleichsam auf Zehenspitzen tänzelnd, ebenso, wie ein anderer Dirigent die Solisten stärker hervortreten oder überhaupt mehr Kammermusik machen würde. Dafür hat Welser-Möst die Ordnung des ganzen Orchesters im Blick, in dem jede Violoncello-Kantilene, jeder Kommentar der traumhaft schönen Wiener Hörner, jedes aquarellistisch eingestreute Harfen-Glissando seinen festen Platz hat. Bei lustigen Effekten wie dem klingelnden Xylophon in der "Zigeunerbaron"-Quadrille von Johann Strauß Sohn bewahren alle ebenso die Contenance wie beim einzigen umstürzenden Ereignis des Vormittags: dem Debüt der Chormädchen, die zusammen mit den Wiener Sängerknaben im Matrosenanzug von einer Empore über dem Orchester die Polka "Heiterer Muth" von Josef Strauss darboten, ohne dass der Traditionsklang des Chors Schaden genommen hätte.
Statt Champagnerlaune und Übermut sind in diesem Jahr Verlässlichkeit und Vernunft in den Musikverein einzogen: vielleicht nicht die allerschlechteste Haltung in unruhigen Zeiten wie diesen.
Der CD-Mitschnitt des Neujahrskonzerts erscheint am 13. Januar bei Sony Classical