Kultur
Noch ein holländisches Phantom
14. Februar 2023, 22:28 Uhr aktualisiert am 14. Februar 2023, 22:28 Uhr
Seinen Frauen kann man sich nicht entziehen. Deshalb wird Johannes Vermeers Sicht auf Delfter Häuser schon mal übersehen oder im Vorbeigehen betrachtet. Dabei ist bei der um die Jahre 1658/59 entstandenen "Straße in Delft" gerne vom "ersten Straßenbild der holländischen Malerei" die Rede. Und wer doch genauer hinschaut, entdeckt hinreißende Details wie die beiden Kinder, die sich unter einer Bank vermutlich auf ein Spiel konzentrieren.
Vergleichbares findet man auch beim Zeitgenossen Jacobus Vrel, der einige solcher Szenen gemalt hat. Noch bis vor ein paar Jahren galt er deshalb als Nachahmer Vermeers (1632- 1675). Und nicht zuletzt wegen der identischen Initialen "JV" wurden die beiden auch in einer Tour verwechselt. Der Kunstkritiker Théophile Thoré, der die Wiederentdeckung Vermeers maßgeblich angestoßen hatte, besaß tatsächlich auch Werke Vrels. Die allerdings hielt der Franzose für echte Vermeers und illustrierte damit 1866 seinen bahnbrechenden Artikel in der "Gazette des Beaux-Arts".
Es ist ja nicht einfach, denn das Hin und Her zwischen Innen und Außen, die Blicke durchs Fenster und die in sich gekehrten Figuren sind bei beiden Malern zu finden. Und über Jacobus Vrel weiß man noch sehr viel weniger als über die "Sphinx von Delft". Weder das Geburts- noch das Sterbedatum ist bekannt, nicht einmal die konkreten Orte sind bislang auszumachen. Zwolle, Bentheim und Frankfurt stehen im Raum, leicht möglich, dass Vrel auch als eine Art Wanderkünstler zwischen Holland und Deutschland unterwegs war.
Es gibt lediglich ein einziges datiertes Interieur - von 1654 und auf Holz gemalt. Das ist der Schlüssel zu einer fabelhaften Entdeckung. Denn durch dendrochronologischen Untersuchungen von etwa 50 Tafeln konnte endlich ein zeitlicher Rahmen abgesteckt werden, der sich zwar mit der Schaffensphase Vermeers überschneidet, aber auch klar macht: Vrel war früher dran - um 1630 - und könnte Vermeer sogar inspiriert haben.
Jacobus Vrel zeigt
frühe Schanigärten auf seinen Gemälden
Darüber darf man ab morgen in einer klug konzipierten ersten Retrospektive im Mauritshuis in Den Haag sinnieren. Das Timing könnte trotz Corona-bedingter Verschiebung kaum besser sein. Vor nicht einmal einer Woche hat die Vermeer-Superschau im Amsterdamer Rijksmuseum begonnen, und viele werden wohl einen Abstecher ins nur 60 Kilometer entfernte Den Haag einplanen.
In der Alten Pinakothek war das Gegenteil der Fall. Vrel fiel der Pandemie zum Opfer, und das ohne jede Aussicht auf eine zweite Chance. Die Folgestation in der Pariser Fondation Custodia stand bereits fest. Das ist bitter, zumal der zuständige Sammlungsleiter Bernd Ebert entscheidenden Anteil an der jahrelangen Forschung hat und mit den Mitteln der Siemens Kunst Stiftung ein vielschichtiges frühes Hauptwerk Vrels für München angekauft werden konnte: die "Straßenszene mit Personen im Gespräch" von etwa 1633/35.
Dieses erstaunliche Leben im öffentlichen Raum lässt an heutige Gewohnheiten denken. Zum Beispiel gibt es vor den Häusern abgegrenzte Bereiche, in Corona-Zeiten sind Schani- oder Wirtsgärten selbst in den großen Städten üblich geworden. Genauso trifft man bei Jacobus Vrel auf die komplexe Darstellung einer nicht verortbaren Architektur, hier mit ihren schmalen, stark gerasterten Fassaden.
Im Gesamtbild erinnern die Strukturen und das Aneinanderreihen kleiner Flächen an Paul Klee, und fast möchte man Vrel ins erweiterte Vorfeld der De Stijl-Bewegung schieben - wären da nicht die extrem reduzierte Palette und die vielen Innenräume. Und das wiederum bringt man unwillkürlich mit Vilhelm Hammershøi, dem dänischen Meister der Stille, zusammen.
Dass ausgerechnet diese Straßenszene in Den Haag fehlt, ist ein bisschen unglücklich, hätte aber mit dem begrenzten Platz zu tun, meint Kurator Quentin Buvelot. Wobei man sich im Mauritshuis auf die teils mysteriösen Interieurs konzentriert. Über allem liegt ein zarter Schatten, selbst wenn die Fenster weit in die Höhe ragen. Und dauernd ist trübes Wetter. Der Eindruck verstärkt sich freilich durch die kühlen Braun- und Grautöne, durch das in sich gekehrte Personal - meist Frauen - in Rücken- oder Seitenansicht, ebenso durch den Blick hinaus oder eine geöffnete Tür.
In den mysteriösen Räumen könnte sich ein Krimi abspielen
Aus dieser latent rätselhaften, ja gespenstischen Stimmung ließe sich leicht ein Krimi entwickeln. Es gibt aber auch die kleinen, sehr privaten Szenen - etwa wenn sich eine Frau, einem Kind auf der anderen Seite des Fensters zuwendet und dabei ihr Lehnstuhl in gefährliche Schräglage gerät. Emotionen sind kaum auszumachen, die Wände kahl. Das schafft Leerräume, die gefüllt werden wollen. Das macht gute Kunst aus, damit hat auch Vermeer gearbeitet. Freilich freudvoller, heller, farbintensiv. Auf der anderen Seite ist dieser Jacobus Vrel so aufregend, weil er sich sperrt. Die Forschung wird jedenfalls weitergehen, was man über dieses Phantom herausgefunden hat, ist immerhin in einem Katalog aufbereitet, aus dem man eine Menge über die Kunst der Zeit und den Kunstmarkt erfährt.
Ausstellungen: "Vrel, Forerunner of Vermeer" vom 16. Februar bis 29. Mai im Mauritshuis, Den Haag, www.mauritshuis.nl; Fondation Custodia, Paris, vom 17. Juni bis 17. September 2023
Katalog: "Jacobus Vrel" (Hirmer Verlag, 256 Seiten, 244 Abbildungen, 39,90 Euro)