Begräbnisrituale rund um die Welt
Was wir von anderen Kulturen über den Umgang mit dem Tod lernen können
31. Oktober 2024, 15:44 Uhr
Obwohl der Tod universell ist, sind es die Bräuche rund um sein Erscheinen nicht. Die Reiseautorin Anita Isalska hat 35 Traditionen rund um Tod, Trauer und Erinnerung gesammelt und in ihrem Buch Guide to Death – kuriose Begräbnisse und Rituale auf der ganzen Welt veröffentlicht, das im Juli dieses Jahres im Reiseführer-Verlag Lonely Planet erschienen ist. Die Reise, zu der das Buch anregt, ist eher eine innere: Denn die einzelnen Bräuche und Orte sind nicht geografisch angeordnet, sondern in vier Themenbereiche unterteilt: Feiern, Gedenken, Trauern und Geben.
Wie ungewöhnlich dieses Buch zum Thema Tod ist, zeigt sich bereits an seiner Gestaltung: Wer Tod und Trauer mit der Farbe Schwarz verbindet, könnte im ersten Moment irritiert sein. Das Buchcover ziert ein mit farbenfrohem Blumenmuster dekorierter Totenschädel vor knallig-pinkem Hintergrund. Auch der Innenteil lässt mit bunten Fotos und Grafiken nicht vermuten, dass es hier um den Verlust geliebter Menschen geht. So viel Lebensfreude, bei einem so traurigen Thema?
„Es ging darum, das Feiern und das Gedenken an die Toten in den Vordergrund zu stellen“, erklärt Anita Isalska bei unserem Videocall. „Über alle Kulturen hinweg verstehen wir, dass Trauer und Schmerz Teil der Erfahrung sind, wenn jemand stirbt. Aber in vielen Kulturen rund um die Welt wird auch das Leben des Toten gefeiert.“
Ein „Reiseführer“ für das Leben und Sterben – so abwegig findet Isalska die Idee nicht. Schließlich geht es auch im Guide to Death darum, fremde Kulturen rund um die Welt kennen- und verstehen zu lernen. „Es gibt überall so viel Weisheit, die andere Menschen inspirieren und vielleicht auch trösten kann.“
Die Autorin hatte schon immer einen Hang dazu, sich mit dem Tod zu beschäftigen. „Ich war immer die Reisende, die den Friedhof besuchen wollte oder das Kriegsdenkmal und das Beinhaus, wo ich mit morbider Faszination diese Türme von Totenschädeln und Gebeinen betrachtete, die man an Orten wie Kutná Hora in Tschechien sehen kann.“ Als sie selbst Familienmitglieder verlor, wurde aus ihrem Interesse an der Verbindung von Kunst, Tod und Gedenken ein persönliches Anliegen.
Ein leerer Stuhl am Tisch für alle, die nicht da sind
Anita Isalska stammt aus einer britischen Familie mit polnischen Wurzeln und lebt mit ihrem australischen Ehemann in Kalifornien. Während der Pandemie waren Besuche von Familienmitgliedern plötzlich nicht mehr möglich – eine Erfahrung, die einschneidend war. „Gerade wenn man die Trauer der eigenen Familie sieht oder man eben nicht gemeinsam trauern konnte – wie das während der Pandemie war, als wir uns nicht treffen konnten –, dann fühlt man, wie wichtig es ist, sich gegenseitig zu trösten.“
Die Reiseautorin begann, nach anderen Wegen zu suchen, mit Trauer umzugehen. Dabei gab es in ihrer Familie bereits den „leeren Stuhl“ – eine vor allem an Heiligabend übliche, polnische Tradition, bei der man einen Stuhl am Tisch unbesetzt lässt. „Die Idee war ursprünglich auch, dass man den Stuhl für unerwartete Gäste frei lässt“, erklärt Anita Isalska. „Aber im Laufe der Zeit verband man die Tradition mit anderen Dingen.“ Etwa mit dem hoffnungsvollen Warten auf ein Familienmitglied, das im Exil lebte. „Für viele Familien präsentiert der leere Stuhl jeden, der nicht da ist, aber von dem man sich wünscht, er wäre da.“
Der Tod ihrer Großmutter war für Isalska ein erster schmerzvoller Verlust: „Sie war die Architektin dieser Familie“, erzählt sie. „Und jedes Treffen fand um diese starke Frau statt, sie war unsere Matriarchin.“ Die plötzliche Abwesenheit traf sie „körperlich“, wie sie sagt. „Der leere Stuhl präsentierte plötzlich meine Großmutter, und nach einiger Zeit kamen weitere Verluste hinzu – dieser symbolische Platz, der freigehalten wird, ist eine schöne Art und Weise, die Verstorbenen teilnehmen zu lassen.“
Anita Isalska besuchte nicht jeden Ort, der im Guide to Death vorgestellt wird, aber sprach bei ihren Recherchen mit Menschen, die eigene Erfahrungen mit den jeweiligen Trauerritualen haben. Auch Reiseexperten für Südostasien unterstützten sie dabei.
Manche Bräuche könnten für Menschen, die von unserer westlichen Kultur geprägt sind, regelrecht verstörend wirken. Wie etwa die tibetische Himmelsbestattung, bei der die Körper der Verstorbenen nach rituellen Handlungen Geiern überlassen werden.
„Wie kann man nur den kostbaren Körper eines geliebten Menschen den Tieren zum Fraß geben – das ist der erste Gedanke, den man hat, denn das hört sich so fürchterlich an“, gibt auch Anita Isalska zu. „Doch je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr Sinn ergab dieser Brauch, sowohl vom symbolischen Standpunkt aus als auch vom praktischen.“ Denn in Tibet sind die Winter kalt, die Böden hart. Bäume für Brennholz gibt es kaum. Die Geier hingegen werden als Himmelsgeister angesehen und die „Rückgabe“ des Körpers nach dem Leben als Akt karmischer Großzügigkeit.
Das „Geben“: Grüne Bestattungen nehmen zu
Dabei ist der Gedanke, nach dem Tod wieder ein Teil der Natur zu werden, inzwischen auch unserer Kultur nicht mehr ganz fremd. Menschen, die viel Wert auf Umweltschutz legen und ihren CO2-Fußabdruck reduzieren wollen, können etwa in Kalifornien nach ihrem Tod eine „grüne“ Bestattung wählen, erzählt Isalska. In den USA seien für gewöhnlich Einbalsamierungen mit Formaldehyd üblich. „Aber ökologisch bezahlt man dafür einen Preis, weil die Chemikalien in den Boden sickern“, sagt sie. „In Kalifornien nehmen daher grüne Bestattungen immer mehr zu, etwa indem der Körper in einer Art Kapsel langsam kompostiert und Teil eines Waldes wird oder als Asche Bestandteil eines künstlichen Korallenriffs.“
Das Umbetten der Toten: ein langsamer Abschied
Auf Madagaskar entstand im 17. Jahrhundert der Brauch, die Toten umzubetten – im Rahmen einer großen Feier. Seitdem wird die „Famadihana“ von verstorbenen Familienmitgliedern alle fünf bis sieben Jahre durchgeführt – das genaue Datum ermitteln Astrologen, um den Toten nicht zur falschen Zeit zu stören. In der Vorstellung vieler Madegassen verlassen Verstorbene nicht sofort die Welt, sondern halten sich in einem Zwischenzustand auf, bis ihr Körper völlig verwest ist. In diesem Zustand gelten sie als Bindeglieder zwischen Gott und Lebenden.
Was in der westlichen Welt undenkbar wäre, ist auf Madagaskar ein Weg, sich nur allmählich von dem Verstorbenen zu verabschieden. „Das plötzliche Verschwinden eines geliebten Menschen kann wirklich traumatisch sein“, sagt Anita Isalska. „Dieses Ritual wie auch andere schaffen einen Zwischenraum, in dem man Zeit zur Verarbeitung hat.“ Das sei leichter zu ertragen als die plötzliche Abwesenheit von jemandem, der zum Beispiel eine tragende Säule der Familie war.
„Das Schmerzhafte an der Trauer ist, dass wir all diese Liebe für einen Menschen haben, und damit nirgendwo hinkönnen“, erklärt die Autorin. „Also ist die Totenumbettung eine Gelegenheit, den Verstorbenen in frische Seidentücher zu hüllen und mit ihm zu reden, den Körper durch das Dorf zu tragen, ihm Fragen zu stellen und Neuigkeiten zu erzählen.“ Das sei tröstlich: „Es geht dabei genauso um die Lebenden wie auch um einen Akt des Respekts für die Verstorbenen.“ Denn man könne, so Isalska, Respekt auch auf körperliche Weise zeigen. Und dabei sogar feiern: Die Exhumierung wird als große Party begangen, die teuer ist und für die viele Gäste kommen – ein Gemeinschaftserlebnis.
Feiern mit den Toten am Día de Muertos
Feiern im Angesicht des Todes? Für die meisten von uns ein Tabu. Der Tod löst in unserer sicherheitsbewussten Gesellschaft Angst aus, eines der stärksten Gefühle, denn er nimmt uns das, was für uns das Wichtigste ist: unser Leben. Der Gedanke an den Tod wird daher ausgeschlossen aus dem Alltag.
Kann man von den Begräbnis- und Trauerritualen einer Gesellschaft auf ihren Umgang mit der Angst vor dem Tod schließen? „Das ist eine interessante Frage“, meint Anita Isalska. „In vielen westlichen Kulturen sprechen wir aufgrund dieser Angst nicht über den Tod. Ich denke aber, Kulturen, die offen mit dem Tod umgehen, können diese Angst reduzieren.“
Ganz verliere man die Angst nie. „Aber ich habe festgestellt, dass man in Kulturen, wo der Tod im Mittelpunkt steht wie beim mexikanischen Tag der Toten, dem Día de Muertos, offener über den Tod und über Verstorbene spricht. Man hat einen Altar, auf dem Snacks stehen, die der Tote liebte, und man stellt sich die verstorbene Person lebendig vor“, sagt sie. Es helfe, meinte sie, wenn man sich daran erinnert, dass die Person zwar tot ist, aber im eigenen Leben, in der Familie und im Freundeskreis immer noch eine Rolle spiele: „Auf diese Weise leben die Verstorbenen weiter.“
Humorvolles Gedenken: Der „Fröhliche Friedhof“
Es gibt feste Regeln im Umgang mit Verstorbenen. Bei uns lautet eine davon: Man spricht nur über ihre guten Seiten. Und eine weitere: Friedhöfe sind Orte der Ruhe und Ernsthaftigkeit. Der Tod ist schließlich eine ernste Sache. Grabmäler sind üblicherweise weiß, grau oder schwarz. Doch das gilt nicht auf dem „Fröhlichen Friedhof“ in Sapânta im Norden Rumäniens: Dort hat in den 1930er-Jahren der Bildhauer Stan Ioan Patras begonnen, Lieder und Geschichten, die bei der Totenwache traditionellerweise gesungen und erzählt werden, als Inspiration für Grabinschriften zu verwenden. Auch die Gräber gestaltete er anders als üblich: Die aus Eichenholz geschnitzten Kreuze bemalte er blau, für Patras eine Farbe der Hoffnung. Ein Reliefbild mit symbolischen Farben charakterisierte den Verstorbenen – Rot stand für die Liebe, Gelb für Fruchtbarkeit und Grün für Lebendigkeit.
„Das ist ziemlich einzigartig“, meint auch Isalska. „Das ist so ein schönes Beispiel dafür, wie ein Friedhof ein Ort so vieler Emotionen sein kann, auch ein Ort der Reflektion, wie lebhaft und lebendig diese Menschen waren.“ Die Bilder sehen fast aus wie Cartoons – und die Darstellungen sind oft fröhlich.
„Vielleicht sieht man sie in ihrem Beruf oder mit einer Flasche, weil sie gerne getrunken haben, vielleicht gibt es auch einen Hinweis, dass jemand hinter den Frauen her war.“ Die farbenfrohen Szenen aus dem Alltag auf den liebevoll gestalteten Grabmälern muntern nicht nur auf, sondern geben auch wahre Eigenschaften der Verstorbenen wieder. „Es ist so eine charmante und ehrliche Art und Weise, jemanden darzustellen“, findet Anita Isalska. Sie überlegt, wie anders das Grabmal ihrer Großmutter aussehen würde, wäre es im Stil des Fröhlichen Friedhofs gestaltet worden. „Auf dem Grabstein meiner Großmutter ist eine sehr formelle Inschrift, dabei machte sie so gerne sehr, sehr lustige Witze und hatte so einen trockenen Humor.“
Humor und Tod, auch das ist eine ungewohnte Kombination. „In Ghana gibt es Särge in der Form von Dingen, die dem Verstorbenen im Leben wichtig waren“, erzählt Isalska. „Zum Beispiel kann der Sarg wie ein Flugzeug oder ein Vogel aussehen.“ Auch Särge, die wie Mobiltelefone aussehen, kämen inzwischen häufiger vor.
Offen über den Tod reden und gemeinsam trauern
Was können wir im Umgang mit dem Tod von anderen Kulturen noch lernen? Anita Isalska denkt nach. „Ich komme aus einem katholischen und britischen Umfeld, da gibt es noch sehr die „stiff upper lip“ (die britische Haltung, bei der man keine Gefühle zeigt, Anm. d. Red.)“, sagt sie. „Wir sprechen nicht offen über den Tod. Vielleicht betrinkt man sich und stößt auf jemanden an, der gestorben ist.“
Doch ihre Recherchen haben Isalska neue Wege des Trauerns gezeigt. Und es stellte sich heraus, wie wichtig das Teilen der Trauer ist. „Der einzige Weg, das durchzustehen, ist, es mit anderen zu teilen, ob im Internet oder mit Menschen im realen Leben, ob mit Familie, Freunden oder einem Therapeuten.“ In vielen Kulturen sei das kollektive Trauern ein fester Brauch. „Diese Momente, in denen man zusammenkommt und aktiv trauert, sind wirklich wichtig.“
Hiroshima: Vom Tod zum Friedensaktivismus
Dass aus dem Tod auch etwas Gutes entstehen kann, hat die Reiseautorin bei ihrem Besuch in Japan erlebt. „Hiroshima ist fast zum Synonym eines tragischen Ortes geworden“, sagt sie. „Der Atombombenabwurf im Zweiten Weltkrieg überschattet die Stadt irgendwie auch physisch.“
Der „A-Bomb Dome“, die skelettartigen Überreste einer früheren Industriehalle mit Kuppeldach, wurde zum Gedenkort. „Es ist eine Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die dort geschahen. Und doch – wenn man mit den Leuten spricht und kulturelle Institutionen besucht, wird einem bewusst, dass sich diese Stadt sehr für Frieden und Friedensaktivismus einsetzt“, sagt Isalska. „Man erkennt, dass aus dem Bewusstsein für den Tod und der tragischen Geschichte ein Impuls für Lebensbejahung entstanden ist.“
Buchtipp zum Thema Tod und Trauer: Guide to Death. Kuriose Begräbnisse und Rituale auf der ganzen Welt. Hg.: Lonely Planet, 2024
Dieser Artikel erschien im Magazin zum Wochenende am 1. November 2024.