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Bluesky: Blauer Himmel als Zufluchtsort

Der Kurznachrichtendienst Bluesky hat binnen Tagen Millionen neuer Nutzer gewonnen, die Elon Musks Plattform X in Scharen verlassen haben. Das hat auch mit der Mission von Bluesky-Chefin Jay Graber zu tun


Hat Bluesky eine Chance gegen X? Der dezentrale Microblogging-Dienst hat binnen Tagen Millionen Nutzer gewonnen, denen

Hat Bluesky eine Chance gegen X? Der dezentrale Microblogging-Dienst hat binnen Tagen Millionen Nutzer gewonnen, denen Elon Musks Netzwerk zu „toxisch“ geworden ist. Überzeugt hat vor allem die Kontrolle, die User auf Bluesky über den Algorithmus haben – und die einfache Bedienung.

Von Franziska Meinhardt und Redaktion Reise und Magazine

Es war eine Meldung, die für Empörung, aber auch für Heiterkeit sorgte: Stephen King, so lautete sie, sei auf dem sozialen Netzwerk X von Elon Musk gesperrt worden, weil er den Inhaber von X als „First Lady“ bezeichnet habe. Einen Tag später das Dementi von King: Das sei wohl Satire gewesen, er sei nicht gesperrt worden und habe Musk auch nicht als „First Lady“ bezeichnet. King fügte noch hinzu, „aber nur deshalb nicht, weil ich nicht daran gedacht habe“.

„Die Atmosphäre ist zu toxisch geworden“

Doch wenige Tage danach war Schluss mit lustig. Am 14. November teilte Stephen King auf X mit: „Ich verlasse Twitter. Habe versucht zu bleiben, aber die Atmosphäre ist einfach zu toxisch geworden. Folgt mir auf Threads, wenn ihr wollt.“ Und nicht nur der „King of Horror“ fand Elon Musks Plattform abschreckend: Am Tag nach den US-Wahlen löschten mehr als 115.000 Nutzer ihren X-Account – tatsächlich waren es wohl mehr, denn in dieser Zahl sind die Nutzer der mobilen App nicht enthalten.

Die Plattform hat bereits 2023 Millionen User verloren, als Twitter in X umbenannt wurde. Musk, der Twitter 2022 gekauft hat und die Plattform zu einer „Allzweck-App“ umbaut, steht seitdem mit seinen rigorosen Maßnahmen in der Kritik: Unter anderem feuerte er nach der Übernahme die Hälfte der Twitter-Mitarbeiter (darunter viele Moderatoren) und führte Gebühren für die Konten-Verifizierung ein. Auch sonst machte sich der X-Eigentümer unbeliebt, etwa wenn er sich als „Absolutist der Meinungsfreiheit“ darstellte, jedoch Ausnahmen machte, wenn es um ihn oder seine geschäftlichen Interessen ging.

Hassbotschaften und Verschwörungstheorien nahmen seit Musks Einstieg bei Twitter ebenfalls zu. Seine Unterstützung von Donald Trump im US-Präsidentschaftswahlkampf – unter anderem durch die Förderung von Falschmeldungen auf X – war dann für viele Nutzer der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach den Wahlen verabschiedeten sich viele User und Unternehmen von X: Dazu gehörten die britische Tageszeitung "The Guardian" ebenso wie die Schauspieler Jim Carrey, Mark Hamill, Jamie Lee Curtis, Ben Stiller, und Star-Trek-Ikone George Takei sowie der Regisseur Guillermo del Toro und der Fernsehjournalist Don Lemon.

Vom „X-odus“ profitierte vor allem Bluesky

In Deutschland schlossen sich die Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale), Aldi Nord und der FC St. Pauli sowie Werder Bremen dem „X-odus“ an. In Österreich erklärte der ORF-Moderator Armin Wolf – sein Account gehörte zu den einflussreichsten seines Landes – seinen Abschied von X, das sich „täglich immer weiter radikalisiert“ habe. Weitere Autoren und Journalisten folgten seinem Beispiel.

Die Fluchtrichtung war eindeutig: Profitiert hat vor allem Bluesky. Der in Deutschland noch relativ unbekannte Microblogging-Dienst mit dem blauen Schmetterling verzeichnete in den vergangenen Tagen einen sprunghaften Anstieg auf 20 Millionen Nutzer, Tendenz steigend. Zum Vergleich: Im September waren es noch neun Millionen.

„Es gibt seit vergangener Woche pro Tag etwa eine Million Leute, die sich anmelden“, sagte die Bluesky-Geschäftsführerin Jay Graber kürzlich in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CNN. „Viele Leute sagen, sie haben hier mehr Spaß und schließen online wieder Freundschaften, unterhalten sich mit anderen. Das ist etwas, das sie lange nicht mehr so erlebt haben.“

Misstrauen gegenüber zentralen Autoritäten: Lantian ?Jay? Graber, die Geschäftsführerin und Visionärin hinter dem Kurznachrichte

Misstrauen gegenüber zentralen Autoritäten: Lantian „Jay“ Graber, die Geschäftsführerin und Visionärin hinter dem Kurznachrichtendienst Bluesky.

Auf die Frage, ob es ein erklärtes Ziel gewesen sei, bei Bluesky einen anderen Tonfall und eine andere Umgebung als bei X zu etablieren, sagte Graber: „Unser Ziel ist, den Nutzern ein Erlebnis zu gewährleisten, wo sie Spaß haben und sich sicher fühlen.“ Eine Erfahrung, die „frei von Bots, Belästigung und Spam“ sei, fügte Graber hinzu. „Aber darüber hinaus wollen wir einen Ort, wo die Leute ihre Kreativität ausdrücken können.“

Nutzer könnten eine Art Marktplatz, bestehend aus Feeds, erkunden: „Man kann die Feeds abonnieren, an denen man interessiert ist, wie man etwa auch Magazine abonniert.“ So könne jeder die Gemeinschaft entdecken, in der er sein wolle.

Lantian „Jay“ Graber, eine Frau mit einer Mission

Besteht da nicht die Gefahr, in einer Filterblase zu landen? Graber sieht die Suche nach Gleichgesinnten als Chance: „Es geht eher darum, den Leuten die Möglichkeit zu geben, sich produktiv zu engagieren, und sicherzustellen, dass es eine Umgebung ist, wo Diskussionen stattfinden können und die Menschen unterschiedlicher Meinung sein können, aber wo sie nicht belästigt werden.“ Man könne dort auch eigene Gemeinschaften gründen: „Es ist den Nutzern überlassen, was sie machen wollen.“

Für Jay Graber, die mit erstem Namen eigentlich Lantian ( Mandarin für „blauer Himmel“) heißt, ist Bluesky mehr als ein Geschäft. Es ist eine Mission. 

Graber wurde 1991 im US-Bundesstaat Oklahoma in eine interkulturelle Familie geboren: Ihr Vater kam aus der Schweiz, ihre Mutter aus China. Die Mutter gab ihr den Namen Lantian, „denn sie wollte, dass ich grenzenlose Freiheit habe.“

Der Name Lantian steht nicht nur für den „blauen Himmel“, sondern metaphorisch auch für die Freiheit und die Möglichkeiten, die Grabers Mutter nicht hatte, die in China während der Kulturrevolution aufgewachsen war. Die Tochter lernte, zentralen Autoritäten zu misstrauen.

Jay Graber studierte Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft an der University of Pennsylvania. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in der Blockchain-Industrie, an Kryptowährungsprojekten und war maßgeblich an der Entwicklung von dezentralen sozialen Netzwerken beteiligt.

Der Twitter-Gründer Jack Dorsey war beeindruckt von ihrem Wissen und ihrer persönlichen Vision. Er setzte sie 2021 an die Spitze von „Bluesky“, einem Forschungsprojekt, das von Twitter abgespalten und als unabhängige „Public Benefit LLC“ (eine gemeinnützige Gesellschaft, die Gewinne erzielen soll) gegründet wurde. Durch die Gemeinnützigkeit soll gewährleistet werden, dass die Bluesky-Mission wichtiger ist, als Gewinne zu erzielen. Bluesky beruht auf dem sogenannten AT-Protokoll, einem offenen Netzwerkprotokoll, mit dem ein dezentralisiertes Online-Ökosystem etabliert werden soll. Damit soll es künftig unter anderem möglich sein, seine Daten von einem Netzwerk zum anderen mitnehmen zu können.

Nach den US-Wahlen herrschen Hass und Angst

Und es scheint, als hätten viele zur Zeit nur darauf gewartet, eine Plattform zu finden, in der sie den Hassreden entkommen, die auf X und Facebook alltäglich sind. Eine Plattform, deren Nutzer weder einem Algorithmus noch einem willkürlich agierenden Eigentümer ausgeliefert sind.

Insbesondere die politische Situation in den USA spielt also Bluesky in die Hände: Nach einem Bericht der "New York Times" kurz nach den Präsidentschaftswahlen erreichten Hassreden auf Social Media einen neuen Rekord. Vor allem Migranten, Asiaten, Schwarze, Frauen, Linke und Mitglieder der LGBTQ-Community waren auf sozialen Netzwerken wüsten Beschimpfungen und Drohungen ausgesetzt.

Angesichts des befürchteten Abbaus demokratischer Normen herrscht bei Mitgliedern von Minderheitsgruppen und vielen Frauen in den USA ein Klima der Angst, das sich auch auf den Plattformen ausbreitet. „Warum verbreiten sie immer noch so viel Hass, sie haben doch gewonnen“, fragt eine Frau in einer nicht-öffentlichen Facebook-Gruppe. Viele in dieser Gruppe trauen sich seit der Wiederwahl Trumps nicht mehr, sich öffentlich zu äußern.

Da scheint der dezentrale Kurznachrichtendienst mit dem blauen Schmetterling ein Retter in der Not zu sein. Zwar kann Bluesky, das derzeit noch von rund 20 Mitarbeitern betreut wird, auch mit seinen nun 20 Millionen Nutzern (Stand 20. November) noch längst nicht mit den Zahlen der „Großen“ mithalten, deren Mitgliederstärke im dreistelligen Millionenbereich liegen (zum Vergleich: X hatte im September 588 Millionen User).

Doch Bluesky bietet etwas, das heute kostbarer denn je erscheint: Kontrolle über die Inhalte, die man zu sehen bekommt, und die Menschen, mit denen man sich austauschen will. So viel Einfluss auf den Algorithmus ist man von anderen Diensten nicht gewohnt, noch dazu bei einer so einfach zu bedienenden Benutzeroberfläche.

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Davon sind auch Tech-Experten begeistert. Chris Stokel-Walker schrieb im Wissenschaftsmagazin "New Scientist": „Ich glaube, es ist die Zukunft von Social Media.“ Der Technologie-Journalist begründet seine Überzeugung damit, dass es Bluesky bei Erreichen einer „kritischen Masse“ an Nutzern durch die Vielzahl an Feeds möglich wird, „de facto zum öffentlichen Stadtplatz“ zu werden – ein Begriff, den ursprünglich Elon Musk für Twitter geprägt hatte.

Über die Feed-Auswahl hinaus läge das auch an Elementen wie den „Starter Packs“, über die man individuelle Nischen erreicht, oder die Tools zum Stummschalten störender Stimmen. Sich den eigenen Algorithmus maßfertig zuzuschneiden, sei am Anfang zwar nicht ganz einfach, räumt Stokel-Walker ein. Aber es sei „aufregend“, nach dem Überblick über die öffentliche Unterhaltung selbst in kleinere Debatten innerhalb einzelner Cluster und Gemeinschaften einzusteigen.

Wolken am blauen Social-Media-Himmel

Bei Bluesky, so sein Fazit, sind Nutzer, nicht große Unternehmen oder „rätselhafte Individuen“ für das verantwortlich, was sie sehen. Daher ist nicht zu erwarten, dass es ähnliche Eingriffe geben wird wie bei X, als Elon Musk die Blockieren-Funktion einschränkte. Ebenso schließt Bluesky aus, Nutzerdaten zu sammeln, etwa zum Trainieren einer Künstlichen Intelligenz.

Doch auch am blauen Social-Media-Himmel ziehen gelegentlich Wolken auf. So kommt es aufgrund des raschen Wachstums derzeit immer wieder zu kurzfristigen technischen Problemen. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, womit künftig Geld verdient werden soll und ob die „Mission“, die sich die Bluesky-Geschäftsführerin Jay Graber auf die Fahne geschrieben hat, auch in Zukunft durchgehalten werden kann.

2023 wurde die Firma zu einer „Public Benefit Corp“ umgewandelt, bei der Aktien ausgegeben werden. Neue Investoren kamen kürzlich von Blockchain Capitals, einem Risikokapitalfonds mit Ausrichtung auf Kryptogeldprojekte. Bluesky stellte klar, es werde seiner Mission treu bleiben und auch künftig auf Blockchains und Kryptowährungen verzichten. Stattdessen werde an kostenpflichtigen Premium-Funktionen gearbeitet – etwa für eine höhere Videoqualität oder weitere Einstellungsmöglichkeiten für das Nutzerprofil. Die Investoren teilten die Haltung Blueskys, dass „Technologie den Nutzern dienen sollte, nicht umgekehrt“, teilte der Dienst auf seinem Blog mit. „Diese Ära der alten Social (Media, Anm. d. Red.) ist vorbei – bei Bluesky geben wir euch die Wahl und die Macht wieder zurück“, heißt es am Schluss.