Leitartikel zur Flüchtlingskrise
Für Merkel wird es eng
9. Januar 2016, 12:18 Uhr aktualisiert am 9. Januar 2016, 12:18 Uhr
Die Flüchtlingszahlen in Deutschland müssen in diesem Jahr drastisch reduziert werden. Darin sind sich CDU, CSU, SPD und Co. einig. Doch der Weg dorthin ist umstritten. Eines aber ist klar: Ohne nationale Maßnahmen wird Angela Merkels Politik scheitern.
Es geht um Zeit, es geht um Zahlen: Die Flüchtlingskrise fordert derzeit Politik und Gesellschaft. Wie viele Menschen genau im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind, vermag niemand exakt zu sagen. Doch die Schätzungen sind dramatisch. 360.000 noch unbearbeitete Anträge liegen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vor, wie dessen Chef Frank-Jürgen Weise am Freitag bei seinem Besuch der Klausurtagung der CSU-Landesgruppe in Wildbad Kreuth sagte. Hinzu kämen weitere 300 000 Menschen, die sich womöglich noch unregistriert in Deutschland aufhalten. Die Gesamtzahl an Flüchtlingen im vergangenen Jahr könne bei weniger als einer Million liegen, hofft Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das wollen viele allerdings nicht glauben und gehen aufgrund der chaotischen Verhältnisse bei der Zuwanderung von einer bis 1,5 Millionen Menschen aus. Derzeit überschreiten täglich zwischen 3.000 und 4.000 weitere Menschen die deutsche Grenze.
So weit die Zahlenspiele. Längst aber geht es um mehr: darum, wer es schafft, die derzeit ungeordneten Verhältnisse wieder in den Griff zu bekommen.
So kann es nicht weitergehen, sind sich alle einig, und das Ziel, die Flüchtlingszahlen in diesem Jahr drastisch zu reduzieren, ist Allgemeingut. 2016 müsse das Jahr der Kehrtwende werden, ist von CDU, CSU, SPD und anderen unisono zu hören. Doch der Weg dorthin ist umstritten. Das wurde auch bei der Klausurtagung der Landesgruppe überdeutlich. Die Bundeskanzlerin setzt auf europäische und internationale Lösungen. Sie geht auf die Türkei zu, da eine der Hauptrouten durch dieses Land führt. Sie will Fluchtursachen bekämpfen, die Situation von Menschen in Flüchtlingslagern in den Herkunftsregionen verbessern und Flüchtlinge nach Quote in Europa verteilen. Allein, viel geschafft ist auf diesem Weg noch nicht. Lösungen sind praktisch nirgendwo in Sicht. Doch nationale Maßnahmen? Das will Merkel nicht, zumindest noch nicht.
Die CSU dagegen kann sich drastischere Maßnahmen vorstellen. Bayern steht unter besonderem Druck. Die meisten Flüchtlinge - über die Balkanroute kommend - erreichen als Erstes den Freistaat. Besserung ist nicht in Sicht. Vielmehr tun sich immer neue Routen auf und neue Gruppen von Migranten machen sich auf den Weg. Immer häufiger registrieren die Anlaufzentren Marokkaner oder Algerier. Zeit - genau die sei in Kürze abgelaufen, hieß es auch in Wildbad Kreuth. Mit der von CSU-Chef Horst Seehofer vorgelegten Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen pro Jahr haben die Christsozialen zumindest eine Hausnummer genannt, an der sich die Politik insgesamt orientieren kann. Nach derzeitiger Rechnung wäre die Zahl allerdings irgendwann zwischen Ende Februar und Mitte März erreicht.
Dabei geht es für die Union längst um mehr. Sie wird auf einem Politikfeld herausgefordert wie noch nie, dem der Sicherheit - bislang Markenkern der Unionsparteien. Und das nicht erst seit Beginn der Flüchtlingskrise. Die Debatten um die Zukunft des Euro haben vielen das Gefühl genommen, ihr Geld, der von ihnen erarbeitete Wohlstand sei sicher. Mit dem Volkswagen-Abgasskandal rückte die Sicherheit von Arbeitsplätzen und Wachstum ins Zentrum. Der ständige ungeordnete Zustrom von Flüchtlingen stellt die Sicherheit der Grenzen und die öffentliche Ordnung infrage. Hinzu kommen Ereignisse wie in Köln, Hamburg oder Stuttgart, wo offenbar eine große Zahl an Frauen von Migranten sexuell bedrängt wurde. Das Gefühl, in Deutschland könne man sich frei bewegen, ohne sich Sorgen um die körperliche Unversehrtheit machen zu müssen, hat Schaden genommen.
Sind es nun Ausländer oder Flüchtlinge, die das Land ins Chaos stürzen, unsere Sicherheit bedrohen und nichts anderes im Kopf haben, als hier Leistungen zu beziehen und Straftaten zu verüben? Nein, eine solche Betrachtung wäre schlicht Blödsinn. Was allerdings bleibt, ist ein beklemmendes Gefühl, dass das einst so sichere und geordnete Land, in dem alles irgendwie ein bisschen besser funktionierte als anderswo, aus den Fugen gerät. Die Politik schafft es derzeit nicht, den Eindruck zu vermitteln, sie hätte die Lage im Griff. Dass Deutschland nach wie vor eines der sichersten Länder der Welt ist - in jeder Hinsicht -, gerät dabei völlig in den Hintergrund.
Nicht nur die CSU in Kreuth, auch die CDU und selbst die SPD bemühen sich sichtlich, das Heft des sicherheitspolitischen Handelns wieder in die Hand zu bekommen. Abschiebung straffällig gewordener Ausländer oder Verbüßung von Haftstrafen in deren Heimatland, Einreise nur mit Ausweis, eine höhere Zahl verdachtsunabhängiger Personenkontrollen - mit Instrumenten wie diesen soll es gelingen, das Signal zu setzen: Wir kümmern uns, Deutschland ist und bleibt das Land von Sicherheit und Ordnung.
Das Gefühl des Chaos macht sich derzeit eben am unablässigen Flüchtlingszustrom fest. Wenn nun das Rezept Merkel nicht wirkt, wird auch die CSU den Druck immer weiter erhöhen. Das hat sie auch in Kreuth deutlich gemacht. Die Zeit läuft ab, sehr viel mehr als ein paar Monate will sie der Kanzlerin nicht gewähren. Denn auch die CSU weiß: Die gegenwärtige Situation ist in höchstem Maße Werbung für die AfD, die derzeit selbst kaum irgendetwas zu tun braucht, um in den Umfragen zuzulegen.
Womöglich steht irgendwann auch die Schließung der Grenzen in Deutschland an. Wie ein Teilnehmer der Kreuther Klausur sagte, warteten auch einige Balkanländer schon händeringend darauf, dass das große Deutschland endlich vorangehe. Dann würden auch sie ihre Grenzen schließen und somit dazu beitragen, geltendes Recht - Schutz der Außengrenzen und Bearbeitung der Anträge der Flüchtlinge am Ort ihrer Einreise nach Europa - wieder in Kraft zu setzen. Dann, so lautet das Kalkül, könne sich endlich was bewegen, denn der Druck auf die europäischen Partner, sich auch an den Lasten der Zuwanderung zu beteiligen, war bisher sehr gering.
In Kreuth hat die CSU ihre Linie noch einmal klargemacht: Hilfe für Menschen in Not ist selbstverständlich. Doch es gibt klare Regeln für die Zuwanderung nach Deutschland und diese sind derzeit außer Kraft gesetzt. Auch die Bundeskanzlerin muss erkennen, dass ihr Rezept, die Flüchtlingskrise zu beherrschen, zu scheitern droht. Sie riskiert damit, dass die Deutschen, die ihr bisher die Treue gehalten haben, das Vertrauen in sie, in die Politik insgesamt verlieren. Schon jetzt sind 20 Prozent der Deutschen grundsätzlich bereit, in der Wahlkabine ihr Kreuz bei Extremisten von rechts und links zu machen. Sollte dies sich tatsächlich einmal in Mehrheiten niederschlagen, könnte es das Land viel gravierender ändern als ein riesiger Strom von Flüchtlingen und zu einem Land führen, das auch Merkel nicht wollen kann. Ohne nationale Maßnahmen wird Merkel scheitern. Das ist ebenfalls ein Ergebnis von Kreuth.