Interviewserie "Über den Rand"
Thomas Haug: Das Gedächtnis von Stephansposching
13. Juli 2019, 8:00 Uhr aktualisiert am 13. Juli 2019, 9:53 Uhr
Als Ortsheimatpfleger verwaltet er das kollektive Gedächtnis seiner Gemeinde: Thomas Haug aus Stephansposching. Im Interview spricht der 52-Jährige darüber, wie ein gebürtiger Esslinger zum Ortsheimatpfleger in Stephansposching wurde.
Wie muss man sich das Amt eines Ortsheimatpflegers in Stephansposching vorstellen?
Thomas Haug: Im Prinzip bin ich das Bindeglied zwischen der Bevölkerung und der Gemeinde. Die meisten Leute haben eher eine Scheu davor, mit einem Bild oder anderen interessanten Sachen zur Gemeinde zu gehen. Dann lassen sie es lieber in der Schublade oder schmeißen es weg. Mich kennen in der Bevölkerung halt einige Leute durch meine Buchrecherche für " Geschichte der Wirtshäuser Stephansposchings - Geschichte und Geschichten aus dem Gemeindebereich Stephansposching". Meist rufen die Leute an und sagen "Ich hab was für Dich - kannst Du mal vorbeikommen?". Dann ratscht man ein bisschen, man kriegt nicht nur neues Material, sondern auch die Geschichte dazu. Das ist mein Vorteil, dass ich kein "Offizieller" von der Gemeinde bin, sondern eher das Bindeglied zwischen Gemeinde und Bürgern, was das Archiv angeht.
Kommen Sie selber aus Stephansposching?
Thomas Haug: Nein, ganz woanders her. Man hört's auch ein bisschen (lacht). Aber das ist oft so, dass die Zugereisten sich mehr mit einem Ort identifizieren als die Einheimischen. Geboren bin ich in Esslingen bei Stuttgart. Seit meinem 13. Lebensjahr bin ich in Bayern. Meine Frau ist eine gebürtige Plattlingerin und in Stephansposching sind wir seit 1998. Die Kinder sind hier geboren und aufgewachsen und ich möchte hier auch nicht mehr weg. Die Arbeit als Heimatpfleger und Archivar ist auch eine Art Dankeschön an die Gemeinde, weil wir uns hier so wohl fühlen.
Wie viele Stunden Arbeit hängen an diesem Amt?
Thomas Haug: In Stunden ist das schwer zu sagen. Man ist eigentlich ständig an irgendwas dran. Zwei bis drei Leute rufen pro Woche mindestens an, die interessante Objekte beisteuern wollen oder die Informationen brauchen. Außerdem bin ich natürlich auch berufstätig.
War Geschichte immer eine Leidenschaft von Ihnen?
Thomas Haug: Das Interesse war eigentlich schon immer da. Schuld war eigentlich mein Geschichtslehrer damals in der vierten Klasse. Er hat immer zum Geschichtsunterricht Anschauungsobjekte mitgebracht wie Pfeilspitzen oder Versteinerungen. Er hat gewusst, dass das die Kinder begeistert. Diese Art der Geschichtsvermittlung hat mich begeistert und ist mir dann sozusagen geblieben. Ich war dann zunächst ein begeisterter Sammler und "Flohmarkt-Geher". Mit der Zeit haben mich dann die Geschichten dahinter mehr interessiert als die Objekte selbst. Was man so herausfindet, will man dann natürlich unbedingt festhalten, auch an die Öffentlichkeit bringen, indem man zum Beispiel einen Artikel schreibt. Das ist die Entwicklung vom Sammler, der daheim für sich sammelt, zum Archivar. Das kommt vielleicht auch mit dem Alter (lacht).
Lesen Sie im zweiten Teil unseres Interviews mehr zu den Arbeitstechniken und zur technischen Ausstattung eines Ortsheimatpflegers.
Vom Flohmarkt ins digitale Archiv
Wie oft trifft man auf so einem Flohmarkt Menschen, die gar nicht wissen, was sie da eigentlich Wertvolles haben?
Thomas Haug: Ab und zu kommt das vor. Wobei ein "Schatz" ja relativ ist. Ein Schatz ist für mich, wenn ich zum Beispiel eine alte Urkunde der Gemeinde finde. Die hat materiell einen Wert von fünf Euro. Für mich als Ortsarchivar ist sie unbezahlbar. Es gibt aber auch objektiv wertvolle Sachen. Einen alten Brief zum Beispiel, mit wertvollen alten Marken drauf. Aber für mich steht das nicht so im Vordergrund. Die Geschichte dahinter ist mir wichtig.
Wie geht man dann weiter vor, wenn man so ein Objekt gesichert hat?
Thomas Haug: Entweder es kommt in die private Sammlung, die Heimatsammlung mit Belegen und ich bring sie nach drüben in die Schule, wo mittlerweile viel eingelagert wird. Vorher wird es bei mir eingescannt. Ich hab dafür von der Gemeinde einen großformatigen Scanner bekommen, für die ganz großen Sachen. Zu Hause hab ich noch einen normalen Scanner. Die Dokumente hab ich alle auch im PC. Dort kommt dann auch noch eine Beschreibung dazu, mit allem, was ich über das Dokument oder das Bild herausfinde. Vor einiger Zeit hab ich von einem Stephansposchinger ein altes Foto bekommen aus den 70er Jahren. Das zeigt, wie die Stephansposchinger Dorfjugend zu der Zeit ausgesehen hat, die Motorräder, mit denen die Leute unterwegs waren, und wie alt und jung damals noch verbunden waren. Ein sehr aussagekräftiges Foto. Wenn ich so ein Bild in der Sammlung anlege, scanne ich es ein und frag in der Bevölkerung herum, wer da drauf ist. Wenn ich die Antworten habe, wird es archiviert. Bei den Fotos schreib ich meistens zusätzlich auf die Rückseite, wer da drauf ist. Das sind Dinge, die sonst verloren gehen würden.
Über die Jahre kommt da bestimmt was zusammen. Wurde das auch schon mal gebündelt ausgestellt?
Thomas Haug: Mit den Räumlichkeiten und der Organisation ist das immer relativ schwierig. Im Prinzip bin ich ein Ein-Mann-Betrieb. Ich bekomme zwar alle Unterstützung, wenn ich was kaufen oder investieren möchte. Aber vom Organisatorischen her ist man dann doch auf sich alleine gestellt.
Also präsentiert wird das Ganze dann publizistisch?
Thomas Haug: Richtig. Entweder in Papierform oder auch im Gemeindeblatt. Ich versuche dann immer, ein bestimmtes Thema abzuhandeln mit dem entsprechenden Material. Einmal zum Beispiel die Geschichte der Raiffeisenbank in Michaelsbuch. Die wurde abgerissen, ist also im Ortsbild nicht mehr vorhanden. In einer vierseitigen Publikation habe ich die Geschichte des Gebäudes und der Bank dargestellt. Ich bemühe mich, alles zu erfassen, von Bulldog- und Fahrzeugweihen bis hin zu Etiketten aus einem Gemischtwarenladen. Das sind alles Dinge, die eigentlich schon lang verloren wären, wenn man sie nicht sortieren und aufheben würde. Pro Ordner kommen dann schon mal 232 Fotos und Dokumente zusammen.
Wenn man so eine historische Aufarbeitung braucht, wie tritt man normalerweise an Sie heran?
Thomas Haug: Meistens sind es die Verantwortlichen vom Verein, die auf mich zukommen. Die Gemeinde fragt auch ab und zu mal nach zu bestimmten Ereignissen. Als in der Lindenstraße die Bäume gefällt worden sind, wollte die Gemeinde das gerne dokumentieren, wie lange es die Lindenstraße schon gibt. Es kommen aber auch Leute, die gerne Familienforschung machen wollen und einen Stammbaum brauchen. Am besten zurück bis 1820 und mit allen Daten drin (lacht). Das kann ich dann leider nicht abdecken. Das schaffe ich nicht nebenbei. Ich mache die öffentlichen Sachen, die für jeden interessant sind, aber ich kann mich nicht zwei Jahre für eine Familienforschung hinsetzen.
… aber ein bisschen Unterstützung gibt's schon, oder?
Thomas Haug: Ja gut, ein bisschen Anleitung gibt's. Und natürlich kann man auch von mir bestimmte Daten haben, die bei der Recherche helfen. Wenn jemand Eigeninitiative ergreift, dann fördere ich das gerne. Für Festschriften der Vereine liefere ich Daten und Material. Da unterstütze ich die Schriftführer, beim Zusammenstellen einer Chronik zum Beispiel.
Daneben gibt es Vorträge von Ihnen. Wie muss man sich die vorstellen?
Thomas Haug: Mir ist es wichtig, dass es nicht so wissenschaftlich rüberkommt. Die Vorträge über historische Bilder in Stephansposching werden sehr gut angenommen. Ich versuche, nicht mit Zahlen zu langweilen, sondern ich zeige ein Bild, beschreibe etwas dazu, wer da drauf ist und in welchem Zusammenhang das entstanden ist. Meist entsteht schon dadurch eine Kommunikation. Die Leute sagen: "Ja, die Geschichte hab ich auch schon gehört" oder "ja, den auf dem Bild kenne ich". Es soll schon immer fundiert sein, vor allem aber soll es der Bevölkerung gefallen, die Leute sollen ihren Spaß dran haben.
Ortsheimatpfleger sind Sie seit 2015…
Thomas Haug: Ja, damals hab ich mein Buch rausgebracht und gleichzeitig bin ich Ortsheimatpfleger geworden.
Lesen Sie im dritten Teil unseres Interviews mehr zu den Zukunftsplänen für das Ortsarchiv und warum auch die Stephansposchinger Schüler bald von ihm profitieren sollen.
Geschichtsunterricht zum Anfassen
Wissen die Gemeinden inzwischen mehr zu schätzen, was ein Ortsheimatpfleger leistet?
Thomas Haug: Absolut. Es wäre sogar gesetzlich eine Aufgabe der Gemeinde, jemanden abzustellen, der die Geschichte der Gemeinde dokumentiert. So jemanden gibt es fast nirgends. Als ich nach Stephansposching gekommen bin, war ich enttäuscht, wie wenig eigentlich vorhanden war. Ich hab bei Null angefangen. Von den vielen Teilgemeinden, den Ortsteilen, die früher selbstständig waren, ist nichts mehr da. Vieles ist ins Staatsarchiv nach Landshut gekommen. Aber versuchen Sie mal, im Staatsarchiv etwas zu finden! Solche Sachen gehören in die Gemeinde. Die Leute, die damit was anfangen können, fahren nicht nach Landshut und tragen dort in eine Liste ein, welche Objekte sie sehen wollen. Die ganze Bürokratie ist schon mehr als abschreckend. Sowas gehört an den Ort. Wer meinen Archivraum sehen möchte, kann jederzeit hinein, der ist öffentlich zugänglich. Anruf genügt und man kann sich anschauen, was da ist.
Der Archivraum ist ein gutes Stichwort. Was ist dort noch zu tun?
Thomas Haug: Eine Menge. Es ist noch relativ wenig dokumentiert. Es gibt noch kein Findbuch.
Was gibt's schon zu sehen?
Thomas Haug: Die alten Schulunterlagen sind da, von 1910 bis 1950 ungefähr. Die wären eigentlich entsorgt worden. Ich hab sie gerettet. Das sind Informationen, die man nicht wegschmeißen darf.
Wie kam es dazu, dass der Archivraum in der Schule eingerichtet wurde?
Thomas Haug: Das habe ich gemeinsam mit der Schulleitung organisiert. Weil sich die Sachen bei mir zu Hause gestapelt haben. Im Keller hatte ich fünf oder sechs Bananenkisten mit Material. Das hab ich jetzt Gott sei Dank auslagern können.
Die Schule ist natürlich ein interessanter Ort für so einen Archivraum. Soll er zukünftig auch den Schülern offen stehen?
Thomas Haug: Noch nicht, aber das habe ich vor. Sobald eine gewisse Ordnung drin ist, will ich öfters mal eine Schulklasse reinlassen. Natürlich auch im Andenken an meine Erfahrung als Schüler. Vielleicht ist das heute wieder für einen Schüler ein "Erweckungserlebnis". Geschichtsunterricht in Verbindung mit Gegenständen. Ich hab zum Beispiel ein altes Bügeleisen, wo man noch Kohlen eingefüllt hat oder auch eine Dezimalwaage. Geschichte und Schule in Verbindung ist einfach ein spannendes Thema.
In unserer neuen Interviewserie mit dem Titel "Über den Rand" sprechen unsere Redakteure regelmäßig mit Menschen, die sie ganz einfach spannend finden - weil sie zum Beispiel einen außergewöhnlichen Beruf haben, eine ganz eigene Weltsicht, ein besonderes Hobby oder einen speziellen Lebensstil. Oder weil sie schlicht anders sind als wir Normalos. Die Gesprächspartner kommen dabei aus der Region oder von weit her. Wir schauen also bewusst mit unserer Serie über den Rand, nämlich über den des eigenen Tellers. Viel Spaß mit den Interviews - mehr davon finden Sie in den Links unten.