Essay
Druck ist subjektiv, Dankbarkeit auch
20. Februar 2023, 11:31 Uhr
Aus den Gedanken gerissen, fast erschrocken. So fühlte ich mich kürzlich, als es um 3.45 Uhr an der Haustür klingelte. Vielleicht liegt es an den vielen Artikeln und Meldungen über Einbrüche, Trickbetrug und Verbrechen, die ich in den vergangenen Jahren beackert habe. Als ich die Tür öffnete, stand da jedenfalls eine völlig durchnässte, durchgefrorene Frau mittleren Alters mit ihrem Fahrrad. Und weinte.
Wie sich herausstellte, arbeitete die aus Pfarrkirchen stammende Dame in der knapp 20 Kilometer entfernt liegenden Nachbarstadt Eggenfelden in einem größeren Betrieb. Sie war auf dem Weg zum Frühdienst. Jeden Tag radelt sie zur Arbeit. 15, vielleicht 20 Kilometer. Einfach. Bei Wind und Wetter. Öffentliche Verkehrsmittel zu geeigneten Uhrzeiten für ihre Schichten gibt es wohl nicht hier am Land.
Aufgrund des extremen Wintereinbruchs des Vortags und nicht geräumter Radwege kam sie jedenfalls an diesem Tag nicht mehr weiter und versuchte es über eine Nebenstraße. Sie verfranste sich und landete bei mir im Dorf, immer noch mehr als 12 Kilometer entfernt vom eigentlichen Ziel.
Was mich am meisten beeindruckte, war die Einstellung der Frau. Ihr einziger Gedanke schien, dass sie zu spät zur Schicht kommen könnte. Ich weckte also meine Frau, wir trockneten die Besucherin ab, gaben ihr frische Socken und ich fuhr sie in die Arbeit. Pünktlich zum Arbeitsbeginn trafen wir ein. Die Frau wollte mir sogar noch den Treibstoff für die Fahrt bezahlen. Was für ein Selbstwertgefühl sie doch zeigte! Trotz einer beruflichen Situation, die alles andere als bequem ist. Doch diese Frau war dankbar für ihren Job, dankbar dafür, dass sie es nach einer Odyssee noch pünktlich zum Arbeitsantritt schaffte.
Wieder zu Hause angekommen, wurde ich sehr nachdenklich. Sind all die Probleme, über die ich nachgrüble, wirklich so groß? Wäre ich selbst bereit, täglich mit dem Fahrrad so weit zu fahren, und das bei Wind und Wetter? Wie so oft komme ich auf eine Formulierung, die mir in den letzten Monaten immer wieder bei der Lektüre der Zeitung durch den Kopf ging: Viele von uns jammern auf hohem Niveau. Vielleicht sollten wir einfach alle etwas mehr Dankbarkeit zeigen. Unserem Gemüt würde es bestimmt guttun.