Nach Verkehrsunfall
Aufkleber an den schönsten Plätzen der Erde lassen Samina weiterleben
4. Januar 2024, 18:00 Uhr
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Im Video erzählt Alexandra Beck aus der Landkreisredaktion Straubing-Bogen wie die Geschichte hinter diesem Türchen entstanden ist.
Video zum Thema:
Ein Aufkleber mit einem strahlenden jungen Mädchen an einem Laternenmast. Dahinter ein schmaler Küstenstreifen und die weiße Gischt des Pazifischen Ozeans. "Samina hat das Meer und das Reisen geliebt", erinnert sich ihre Mutter Sigi Griesbeck. Australien stand auf Saminas Wunschliste ganz oben. Freunde der Griesbecks leben an der Ostküste. Bei ihnen hatte Samina schon einmal vorgefühlt, ob sie ihr nicht eine Au-pair-Stelle vermitteln könnten. Aus Australien ist nichts mehr geworden, denn Samina - die kommenden Februar 19 Jahre alt geworden wäre - starb am 10. August 2022 nach einem Verkehrsunfall.
Doch nun bringen Freunde und Verwandte Sticker mit Saminas Gesicht zu den schönsten Plätzen der Welt. Auf den Aufklebern steht ihr Name, in Regenbogenfarben und großen Buchstaben geschrieben. Bernd Griesbeck, Saminas Vater, sitzt am Wohnzimmertisch seines Hauses in Geiselhöring und zeigt auf seinem Laptop die Seite mit einer Weltkarte, die er #EinmalUmdieWelt genannt hat. Auf Google Maps hat er alle Orte mit Fähnchen markiert, an denen nun Aufkleber mit Saminas Foto kleben. Die meisten Fähnchen sind in Europa und Australien, aber auch in Sri Lanka, in der Südsee, in den USA, in Ägypten und im chinesischen Shanghai ist Saminas Gesicht auf Laternenmasten, Brückenpfeilern, Bäumen, Infotafeln zu sehen.
"Ich habe die Hoffnung, dass sie mit dabei ist"
Viele Freunde schicken Fotos und Filme, die sie beim Aufkleben der Sticker zeigen. "Unser vorletzter Stopp ist heute Ajaccio auf Korsika. Dort hat Sami gerade einen Blick auf unser Aida Schiff und auf den wunderschönen Hafen", schrieb eine Freundin. Bernd freut sich über jede Nachricht. "Das ist, als würde ich eine Postkarte bekommen."
Die Idee mit den Aufklebern hatte er im Herbst 2022. Sein Cousin Reinhard hatte Bernd und Siglinde zu einem Kurzurlaub nach Österreich überredet. "Damit ihr mal rauskommt." Auf einem Berggipfel erwartete die Griesbecks ein wunderschönes Panorama. Bernd entdeckte einen Fahnenmast voll mit Aufklebern. Ein Verein hatte sein Logo mit einer Klarsichthülle geschützt. Er schob ein Foto von Samina in eine Ecke. "Ich dachte mir: ‚Dann hat sie auch eine so schöne Aussicht'". Einen Monat später fing Bernd an, Aufkleber zu drucken und sie Saminas Freunden, Verwandten und Bekannten mitzugeben. Er hat den Wunsch, dass der Aufkleber mit Saminas Foto an möglichst vielen Orten auf der Welt ist. "Derzeit sind es 120."
Die Aufkleber sind Teil eines Trauerprozesses
Schmerzt es ihn nicht, wenn er Fotos von Saminas Freundinnen sieht, die jetzt die Welt bereisen, während seine Tochter ihr Fernweh nicht mehr stillen kann? "Es tut weh, aber es ist auch schön, zu sehen, wenn irgendwo ein Sticker mit Samina klebt. Ich habe die Hoffnung, dass sie dann mit dabei ist."
Fotos von Samina zu sortieren, stetig neue Fähnchen auf Google-Maps einzutragen, ihren Freundinnen vor einer Reise Aufkleber vorbeizubringen gehört jetzt zu Bernds Alltag. Und sind Teile eines Trauerprozesses; ein Versuch, den Tod seiner Tochter irgendwie verarbeiten zu können. Und dabei auch Wege zu gehen, die vielen Menschen auf den ersten Blick außergewöhnlich erscheinen. Zwei Tage nach Saminas Tod hat Bernd eine Whatsapp-Gruppe gegründet, in der viele Freunde aufgenommen wurden. "Ich hab gewusst, dass es ihnen nicht gut geht und dachte: ‚Vielleicht hilft ihnen ein Austausch weiter." Schmerz und Trauer, aber auch schöne Erinnerungen, festgehalten in Filmen und Fotos, wurden in der Gruppe geteilt. Und Aufnahmen von ganz vielen Regenbogen. Ein Symbol für die Verbindung zwischen Mensch und Gott, für Hoffnung und für die LGBTQ-Bewegung. Diese war Samina ein Anliegen.
"Es hilft, dass nichts unausgesprochen blieb"
Dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, ganz egal, aus welchem Erdteil sie kommen, welche sexuelle Orientierung und Hautfarbe sie haben - für diese Menschenrechte einzutreten, sei Samina wichtig gewesen. Auch für Organspende hat sie geworben. Ihre Niere Leber und Bauchspeicheldrüse konnten mach dem Unfall transplantiert werden. Saminas Herz war zu sehr geschädigt. "Das hat uns lange beschäftigt. Es wäre schön gewesen, wenn ihr Herz in einem anderen Menschen weiterschlagen würde", erzählt Bernd.
Ihm fällt es leicht, über seine Tochter zu reden - seiner Frau Sigi nicht. Immer wieder steht sie kurz vom Tisch auf oder greift zur Box mit Papiertüchern, um ihre Tränen wegzuwischen. "Samina war ein Mensch, dem es immer wichtig war, dass es anderen gut geht", sagt sie.
Kein Tag sei vergangen, ohne dass ihre Tochter beim Verlassen des Hauses ihr nicht ein "Ich hab dich lieb" zugerufen hat. "Wenn ich nicht geantwortet habe oder nur ein genervtes ‚ich dich auch', weil ich grad mit etwas anderem beschäftigt war, hat sie nicht lockergelassen und gemeint ‚du musst jetzt auch sagen, dass du mich liebhast'."
Die Tatsache, dass Samina so offen über ihre Gefühle sprach, erleichtere den Eltern den Trauerprozess. "Bis zum Schluss blieb nichts ungesagt", stellt Bernd fest. Von anderen Betroffenen in Trauergruppen wissen sie, dass es das Unausgesprochene ist, das die Hinterbliebenen quält. Unabhängig voneinander besuchen die Griesbecks Trauergruppen des Hospizvereins Straubing-Bogen. "Erst dachte ich, dass es alles nur noch schlimmer macht, wenn ich die Geschichten der anderen höre", sagt Sigi. Doch, das Gegenteil sei der Fall: "Man sieht, dass andere einen ähnlichen Verlust erlitten haben".
Jeder der beiden Ehepartner trauert anders
Beide verarbeiten den Verlust ihrer Tochter ganz unterschiedlich. Während Bernd sich viel mit anderen Menschen über Samina austauscht, zieht sich Sigi eher zurück. "Ich arbeite viel, um mich abzulenken", sagt sie. Doch beide nehmen Rücksicht aufeinander und respektieren den Weg des Partners. Ein Freund hat Bernd mit den Worten "Samina wäre jetzt wahrscheinlich sowieso ausgezogen, um irgendwo zu studieren", zu trösten versucht. Auch wenn nicht jedes Wort immer hunderprozentig passe, findet Bernd das Gespräch mit anderen wichtig. "Es ist gar nicht so entscheidend, was jemand sagt, sondern, dass überhaupt etwas gesagt wird." Wie wichtig tröstende Worte, ein in den Arm nehmen und Gespräche über die Verstorbenen für die Angehörigen sind, hätten die Eltern jetzt erst erkannt. "Früher haben wir solche Situationen gemieden, gingen ungern auf Beerdigungen und wussten nicht, was wir sagen sollen", erinnert sich Sigi. Doch der große Zuspruch von Menschen nach Saminas Tod sei hilfreich gewesen.
Die Whatsapp-Gruppe, die Bernd nach Saminas Tod eingerichtet hat, gibt es immer noch. Jedoch sage er den jungen Frauen immer wieder, wie wichtig es sei, dass sie ihr eigenes Leben weiterführen.
Der Freundeskreis seiner Tochter war groß: Schulfreundinnen des Burkhart-Gymnasiums in Mallerdorf-Pfaffenberg, Fußballerinnen des VfR Laberweinting und viele andere. Oft sei es für Samina herausfordernd gewesen, alle Freunde unter einen Hut zu bringen. "Am Samstag hätte sie dann am liebsten mit allen etwas unternommen." Sigi fügt hinzu: "Oft habe ich ihr gesagt ‚bleib doch mal einfach zuhause und tu nix'."
"Am Ende ist es einfach Schicksal"
Doch es gab auch die andere Samina, die Zweifelnde, die, obwohl sie eine gute Schülerin war, sich Sorgen machte, das Abitur nicht zu schaffen. Auch bei der Alpenüberquerung mit dem Fahrrad, der Schulabschlussfahrt, hatte sie Angst, scheitern zu können. Wie es die meisten Mütter machen würden, hat Sigi ihre Tochter ermutigt. Dass sie ausgerechnet bei einer Trainingsfahrt mit dem Fahrrad für diese Tour von einem von hinten kommenden Auto erfasst wurde, hat ihre Mutter lange beschäftigt. "Natürlich habe ich mir gedacht, hätte ich ihr vielleicht besser abgeraten."
Dass Samina und ihr Trainingspartner, ein junger Nachbar der Griesbecks, an diesem Tag nicht gleich von Geiselhöring aus in Richtung Neuhofen gefahren sind, sondern erst einen Umweg über Greißing machten, ging Sigi nicht mehr aus dem Kopf. Samina wollte erst dreimal den Greißinger Berg in der Nähe von Geiselhöring hochfahren, um dem Nachbarn ihren Trainingsfortschritt zu zeigen. "Ich habe mich immer wieder gefragt, ob das Auto auch gekommen wäre, wenn die beiden gleich den direkten Weg nach Neuhofen eingeschlagen hätten." Doch diese Hätte, Könnte und Würde führe zu nichts. "Am Ende ist es einfach Schicksal", resümiert Sigi.
Die Eltern kommen immer noch zur Unfallstelle
Der größte Schmerz sei zu wissen, dass ihre Tochter so vieles nicht mehr erleben darf. Im Rückblick betrachtet habe Samina wegen ihrer Energie, ihrer Beliebtheit und ihres Engagements für ihre kurze Lebenszeit gerne und intensiv gelebt. "Sie hat uns gelernt, den Wert des Lebens zu erkennen", sagt ihr Vater. In der Nähe der Unfallstelle wurden Kerzen, Fotos, Blumen und Briefe hinterlegt. Bis zur Beerdigung von Samina besuchten die Griesbecks jeden Tag den Ort am Waldrand. Noch immer gießen sie dort Blumen und werfen verwelkte weg.
Mit ihrem Trainingspartner, der neben ihr fuhr, als das Auto kam, haben Sigi und Bernd über die letzten Stunden ihrer Tochter gesprochen. Er sagte ihnen, dass Samina Sekunden vor dem Unfall, zu ihm rübergeschaut und ihn angelächelt habe. Vielleicht mit einem ähnlichen Lächeln, das nun Menschen auf der ganzen Welt auf Laternenpfosten, Brückenpfeilern, Steinen, Bäumen und Info-Tafeln entdecken.