Rezension
Jugendliche Energie und Zauber des Crossover bei Rivertone
8. Juli 2022, 15:47 Uhr aktualisiert am 8. Juli 2022, 15:47 Uhr
"Für mich steht der Groove an erster Stelle. Ohne ihn spiele ich gar nicht erst." Was der berühmte Jazzpianist Joe Zawinul sich auf die Fahnen geschrieben hatte, galt auch für die beiden jungen Bigbands, die das Rivertone Festival 2022 im Straubinger Tiergarten eröffneten.
Zu Ehren des großen (aus Österreich stammenden) Jazzers Joe Zawinul, der an diesem Abend 90 geworden wäre, wurde das gespannte Publikum mit seinem Hit "Mercy, mercy, mercy" begrüßt. Erstaunlich professionell präsentierte sich die Big Band des Anton-Bruckner-Gymnasiums; die Rhythm Section (Drumset: Valentin Löw, Keyboard: Felix Zeindlmeier) begleitete souverän die perfekt abgestimmt und wohlüberlegt artikulierenden Gruppen Reed Section (Heinrich Eigslperger, Namenspate für den Stücktitel "Heinrich der Lange", Daniel Wurm und Leonie Ring, Saxophone) und Brass Section (Gereon Englberger und Andreas Janker, Posaunen, Paula Remmele, Trompete). Jeder der jungen Künstler war selbstbewusst solistisch aktiv; die raschen Wechsel zwischen Drumset- und Bläsersoli im "Anton-Bruckner-Blues" wirkten etwa wie Kombinationen eines jungen Teams von Ballzauberern auf dem grünen Rasen. Bandleader und Vollblutjazzer "Möpl" Jungmayer leitete das Ensemble vom Tenorsaxophon aus; nach der Coronazeit brachte er die ABG Big Band mit Tatkraft, Kreativität beziehungsweise etlichen Eigenkompositionen und Humor von "Null auf Hundert". Erfrischend wie der Titel des letztes Stücks ("Watermelon Man" von Herbie Hancock) war der ganze Auftritt der vielversprechenden Gruppe.
Nicht im Fahrwasser des Traditional Jazz
Das Straubinger Publikum staunte nicht schlecht über das, was dann kam: Eine "Bigband" im wahrsten Sinne des Wortes mit über 15 Mitgliedern, die sich allerdings nicht im gewohnten Fahrwasser des Traditional Jazz bewegte. Wie in einer faszinierend neuartigen ozeanischen Welt konnte man sich in diesen Klängen treiben lassen: Gleichmäßig pulsierende Begleitmuster im Schlagzeug und im Keyboard bildeten einen mitreißenden Sog und eröffneten scheinbar unendliche Räume; immer wieder ragten zackige Riffs der Bläser auf, psychedelisch-ätherischer Farbenrausch entstand durch schwebende Klänge, und die mächtige Tiefe der Posaunen und einmal sogar der Kontrabassklarinette jagte den Hörern stellenweise Schauer über den Rücken.
"Jazzrausch" verbindet im besten Sinne des "Crossover" verschiedene Welten. Grundlage ist der Techno, der in den frühen Neunzigern entstandene ekstatische Tanzstil mit seinen Wurzeln in der Minimal Music und der elektronischen Musik. Die mittlerweile weltbekannte Formation "Jazzrausch" begann als Hausband des Münchner Technoklubs "Harry Klein". Natürlich schimmerten immer noch Elemente aus den bläserbetonten Stilen Swing und Funk durch, aber auch klassische Motive wurden in den Stücken von Arrangeur, Komponist und Electronics-Spezialist Leonhard Kuhn verarbeitet. "Schostakowitschs Breakdown" etwa war mit seinen markanten Rhythmen und dissonanten Melodiefetzen an die 15. Sinfonie dieses modernen Komponisten angelehnt.
Auch Goethes "Faust" mit dem Textausschnitt um den Vers "gib meine Jugend mir zurück" war Inspirationsquell für den eindrucksvollen musikalischen Kosmos, den "Jazzrausch" entstehen ließ.
Solosängerin zeigte eine enorme Bandbreite
Die Solosängerin zeigte eine enorme Bandbreite zwischen Deklamation, Vokalise, kühl-erotischem Jazzpop ("Five dice") und stimmlicher Ekstase. Von den vielen Virtuosen in der großen Bläserbesetzung seien stellvertretend Florian Leuschner mit einem gewaltigen Bariton-Sound und Daniel Klingl genannt, der sein Sopransaxophon auf faszinierende Weise nach Oboe klingen ließ. Posaunist, Leader und Moderator Roman Sladek schaffte es, mit viel Humor und leicht ironischen Spitzen ("Niederbayern sind schon eine besondere Marke") das Publikum aus der Reserve zu locken: Als bei der zweiten Zugabe orientalisch angehauchter Melodiezauber über einem Techno-Beat das Rivertone-Zelt durchwehte, hielt es kaum einen Besucher mehr auf seinem Sitzplatz. Die Straubinger "heilige Halle des Jazz" war zum Techno-Klub geworden, und dank der von "Jazzrausch" verbreiteten Energie schien sich die vorher angesprochene Aufforderung für das begeisterte Publikum erfüllt zu haben: "Gib meine Jugend mir zurück"!