Die Armut unter uns
Flaschensammeln? Für Georg (67) aus Regensburg überlebensnotwendig
4. August 2024, 12:00 Uhr
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Im Video erzählt Barbara Eisenhut aus unserer Redaktion Regensburg, wie die Geschichte hinter diesem Türchen entstanden ist.
Video zum Thema:
Eine weiße Plastikkugel, leere Flaschen, ein paar pfandfreie Bierdosen - das ist die Ausbeute von Georg (Name geändert) für den Tag. Sie steckt in einer hellgrünen Tragetasche mit aufgedruckten Früchten, die er über der Schulter trägt, und einer Plastiktüte von einem Supermarkt in seiner Hand. Daraus muffelt es nach vergorenen Getränken. Seit zwei Jahren sammelt der 67-Jährige in der Regensburger Altstadt Pfandgut und alles, was er gebrauchen kann. Mit dem Geld bessert er seine Rente auf.
In der Fußgängerzone öffnen die ersten Geschäfte. Die Menschen flanieren in den Gassen, blicken in Schaufenster, gehen dabei von der einen Seite zur anderen. In Cafés sitzen vor prall gefüllten Frühstückstellern lachende Gesichter und trinken Cappuccino. Das kann sich Georg nicht leisten. An den schön gedeckten Tischen schlurft er in schwarzen Schlappen vorbei. Er hat ein weißes T-Shirt und eine dunkle Hose an. Fast alles, was er an sich trägt, hat er gefunden. Die grau melierten Haare sind kurz geschnitten. Die blauen Augen blicken sanft. Zehn Kilometer ist er täglich in der Altstadt unterwegs. Während er geht, erzählt er Anekdoten, welches Haus gerade von wem verkauft wird und wo es seiner Meinung nach Probleme in der Stadt gibt. Auch von sich selbst erzählt er. Wenn er das tut, ist Reue, aber auch Unverständnis über die eine oder andere Begebenheit im Leben herauszuhören.
Immer um neun Uhr fährt Georg mit dem Bus zu seiner Sammelrunde. Im Zickzack durchforstet er die Gassen. Er kennt sie wie seine Westentasche. In einem dunkelblauen Rucksack hat er das Nötigste dabei, in der Seitentasche steckt eine kleine Saftflasche als Proviant. Bei seiner Runde hält er an Abfalleimern, in die blickt er mit geschultem Auge. Wenn etwas für ihn dabei ist, greift er zu. Auch an Ecken und Fensterbrettern hält er an. Manches findet er einfach auf der Straße. Kurz kramt er in einem Zu-Verschenken-Schrank in der Obermünsterstraße. Zwischen Bettlaken und alten Schuhen zieht er eine Tasche heraus, entscheidet aber dann, dass die nichts für ihn ist.
Die Konkurrenz zwischen den Sammlern ist groß
An manchen Tagen bringt Georg mit dem Flaschensammeln mehr Geld zusammen, als ihm mit seinen 92 Euro Rente im Monat pro Tag zur Verfügung steht. Hat der Monat 30 Tage, sind das drei Euro. "Zehn bis 15 Euro am Tag habe ich schon gemacht", sagt er. "Oft schaffe ich aber nicht mal die zwei Euro für das Essen beim Strohhalm." Vor einiger Zeit, als die Mahlzeit bei dem Verein für Obdachlose und hilfsbedürftige Menschen noch einen Euro kostete, sei es noch leichter gewesen, dann wurde der Preis verdoppelt.
Flaschensammler gehören in der Regensburger Altstadt seit Jahren zum Stadtbild. Über den ganzen Tag verteilt sind sie zu sehen, in der warmen Jahreszeit mehr als im Winter. Wenn an lauen Sommerabenden der Bismarckplatz voll besetzt ist, laufen sie durch die Reihen und fragen: "Kann ich die schon mitnehmen?"
"Die Konkurrenz zwischen den Sammlern ist groß", sagt Georg. "Manche fangen schon ganz früh an, wenn man später geht, findet man nicht mehr so viel", erzählt er. "Einige machen es ganz professionell, die nehmen beispielsweise keine Glasflaschen mit, weil die zu schwer sind." Solche "Flaschensammlerprofis", wie er sie nennt, sind für ihn schlimm. "Die sind teilweise so bösartig aufeinander, die springen einen Meter vor der Flasche hinterrücks her und schnappen mir die Flasche vor meinem Zugriff weg", sagt Georg. Er selbst nimmt sogar pfandfreie Bierdosen mit. "Die sammle ich in einem blauen Sack und bringe sie dann zum Schrotthändler." Je nachdem, wie der Alupreis ist, bekommt er dafür drei bis vier Euro.
Die Stellen in der Stadt mit der besten Ausbeute kennt Georg auch. "In den Hauptstraßen, wie in der Bachgasse, findet man fast nichts. Mehr gibt es in den kleinen Seitengassen", sagt er. Überhaupt Flaschen sammeln zu gehen hat ihn Überwindung gekostet, sagt er. Negative Reaktionen hat er bisher allerdings noch nicht erlebt, ganz im Gegenteil: "Eine ältere Frau ist mir mal ein Stück meines Weges hinterhergegangen. Sie hat mir zugerufen und gefragt, ob ich Flaschen sammle. Nach einer kurzen Unterhaltung hat sie mir einen Zehn-Euro-Schein gegeben."
Altersarmut hatte er nicht auf dem Radar
In Regensburg lebt Georg seit über zehn Jahren. "Angefangen habe ich in einem Wohnwagen, nach dem Ende einer Beziehung", erzählt er. Mittlerweile habe er ein paar Container auf einem Grundstück etwas außerhalb für sich. Dem Mann, dem der Grund gehört, hilft er immer wieder, deshalb zahlt er keine Miete.
Wütend auf den Staat ist Georg wegen seiner Situation nicht. "Ich bin selbst schuld", sagt er. Dass seine Rente mit 92 Euro sehr gering ist, liegt daran, dass er während seiner Selbstständigkeit nichts eingezahlt hat. Zwei Verkehrsunfälle kurz vor Ende seiner Arbeitszeit und die damit einhergehenden Einschränkungen, unter anderem eine kaputte Hand, machten das Pech für den handwerklich begabten Menschen perfekt. Krankenhaus und Therapiekosten brachten ihn in eine finanzielle Schieflage. "Noch heute zahle ich monatlich etwas davon ab", sagt er.
Altersarmut war etwas, das für Georg immer weit weg war. "Was im Alter mit mir ist, darüber habe ich nicht nachgedacht, auch weil meine Eltern nicht arm waren", sagt er. Denn eigentlich stammt Georg aus einer betuchten Familie und in seinem Leben hat der 67-Jährige immer gearbeitet. "Ich habe eine Ausbildung als Mechaniker gemacht und meinen Gesellen, in der Zeit war ich angestellt. Danach habe ich mich selbstständig gemacht", erzählt er. Im Betrieb der Eltern hat er geholfen und sich außerdem eine Firma aufgebaut. Ein ausufernder Erbrechtsstreit nahm ihm die Lebensgrundlage. Am Ende stand eine Insolvenz.
Bei seinen täglichen Streifzügen findet Georg nicht nur Flaschen und Dosen. "Man findet alles", sagt er. "Personalausweise, Handys, Anziehsachen. In der Ostengasse ist mal ein ganzes Klo am Bürgersteig gestanden. Auch einen Bettrahmen habe ich schon gefunden." Kürzlich sei eine kleine rote Box mit Kondomen auf der Straße gestanden. Sein bisher skurrilster Fund waren aber zwei neue BHs mit Preisschild, die mitten auf der Straße lagen. "Die müssen irgendwo runtergefallen sein", glaubt der 67-Jährige. Auf seinem alten grauen Tastenhandy scrollt Georg durch die vielen Bilder seiner Schätze. Der kleine Bildschirm ist ganz zerkratzt. Die Fotos zeigen Kisten voll mit Gläsern, die in seinem Zuhause stehen, auf Stangen hängen Anziehsachen und Taschen. Eines zeigt eine lachende Frau mit einer roten Lederjacke.
Ein kleiner Laden ist sein Traum
"Sie ist drogenabhängig und hat sich total über die Jacke gefreut", sagt Georg. Auf der Straße treffe er die Frau öfter. Er selbst habe weder mit Drogen noch mit Alkohol etwas am Hut. "Ich habe die Jacke gefunden, aber was will ich damit. Die meisten der Sachen verschenke ich sowieso. Ich könnte jemanden zehnmal einkleiden." Manchmal überlege er sogar, mit all seinen Funden einen kleinen Laden aufzumachen. "Ich kucke immer, wo etwas leersteht", erzählt er. Die Mieten in der Altstadt seien für ihn aber nicht erschwinglich.
Weil die finanzielle Ausbeute beim Flaschensammeln immer schlechter wurde, ging Georg vor einiger Zeit zum Caritas-Beratungszentrum, um sich helfen zu lassen. "Ich habe mir gedacht, so geht es nicht weiter", sagt er. Die erste Zeit habe er sich mit Geld, das er auf der Seite hatte, über Wasser gehalten. Die Entscheidung zur Beratung entpuppte sich als eine gute: "Jetzt habe ich eine Essenskarte und kann unter der Woche umsonst bei Thurn und Taxis essen." 30 bis 40 Leute seien in der Fürstlichen Notstandsküche meist vor Ort, das Klientel angenehm. Weil dort am Wochenende geschlossen ist, isst Georg samstags und sonntags beim Hilfsverein Strohhalm. Dort seien aber öfter Drogenabhängige oder ungeduschte Menschen. "Das stört mich schon, auch wenn ich sozial nicht mehr auf hohem Niveau bin", sagt er.
Die Caritas hat für Georg auch Bürgergeld beantragt. Auf den Bescheid wartet er schon Monate, ständig müsse er etwas nachreichen. Es ist eine psychische Zerreißprobe für ihn. Mittlerweile hat er den Mut verloren: "Ich glaube nicht mehr, dass es klappt."
Schweinebraten essen bei der Fürstin
Aus seinem Geldbeutel zieht der 67-Jährige einen kleinen Zettel, es ist ein ausgeschnittenes Zeitungsinserat. "Die suchen jemanden, der Wasserproben zieht", sagt er. "Da will ich mich bewerben, das kann ich noch machen." Nach seiner Insolvenz habe er unter anderem als Testfahrer gearbeitet, später als Selbstständiger bei Aufbauarbeiten eines Baumarkts in Wohnungen geholfen. Das geht heute nicht mehr so gut. "Was will ich denn als Handwerker mit meiner kaputten Hand", sagt er.
Georg sitzt auf einer Bank. Er steht auf, sammelt seine Taschen zusammen, schultert den Rucksack. Es ist Mittwoch, da steht bei der Fürstin Schweinebraten auf der Speisekarte. "Da freue ich mich drauf", sagt er. Mit all dem guten Essen müsse er aufpassen, dass er nicht zu dick wird. "Das merke ich schon an meinem Bauch." Auf den klopft er erst mit einer, dann mit der anderen Hand. Er lacht. Mit dem Klackern von Plastikpfandflaschen und Blechdosen in seinen Taschen macht er sich auf den Weg.