"Es geht um die Anzahl"
Flüchtlingssituation in Ostbayern: Willkommenskultur ade?
2. Oktober 2024, 17:53 Uhr
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Im Video erzählt Clio Sailer aus der Digital- und Seite-3-Redaktion wie die Geschichte hinter diesem Türchen entstanden ist.
Video zum Thema:
Die Jahre 2015 und 2016 sind der Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Hunderttausende Menschen kommen damals nach Deutschland. Aufbruchsstimmung und Angela Merkels berühmtes "Wir schaffen das" prägen die Stimmung. Oder kurz: Es herrscht Willkommenskultur. Mittlerweile sieht die Sache anders aus.
2023 sagt Bundeskanzler Olaf Scholz: "Wir müssen endlich konsequent abschieben." Die Stimmung im Land hat sich verändert, auf Bundesebene überbieten sich Politiker verschiedener Parteien mit Maßnahmen für eine striktere Migrationspolitik und in Gemeinden regt sich oft Widerstand gegen geplante Flüchtlingsunterkünfte.
So verhinderte der Bauausschuss in Schierling (Kreis Regensburg) die Einrichtung eines Flüchtlingsheims und in Aiterhofen (Kreis Straubing-Bogen) wehren sich Einwohner gegen eine Asylunterunft mitten im Ort. Vergangenes Jahr machten Anwohner im Ortsteil Rabenstein in Zwiesel (Kreis Regen) mobil gegen eine Sammelunterkunft, in Straubing kochte die Stimmung wegen einer Disco hoch, in der nun Geflüchtete untergebracht werden sollen. Anwohner haben Angst, Kommunen sind überfordert und Geflüchtete merken, wie sich die Stimmung verändert hat. Aus "Wir schaffen das" ist vielerorts "Wir können nicht mehr" und "wir wollen so auch nicht mehr" geworden.
"Was ist los, Deutschland?"
Dass sich im Land etwas verändert hat, merkt auch Ali Reza Amiri. Amiri lebt seit über acht Jahren in Deutschland, seinen Aufenthaltstitel muss er regelmäßig bei der Ausländerbehörde verlängern lassen, sonst droht ihm die Abschiebung. Ali Reza Amiri hat jeden Tag Angst, sagt er. Davor, Deutschland verlassen zu müssen, und vor der Stimmung im Land.
Auf dem Papier ist er Afghane, aber im Iran aufgewachsen. Im Winter 2015 macht er sich zu Fuß und übers Meer auf den Weg nach Europa. Im Januar 2016 kommt er in Deutschland an. Sechs Monate lebt er in einem Asylheim, fängt bei der SG Post-Kagers in Straubing an, Fußball zu spielen, und beginnt eine Ausbildung in der Pflege. Jetzt ist er 35 und wohnt in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Straubing. An den Wänden hängen eingerahmte Fotos von ihm und seiner Fußballmannschaft.
Jeden Morgen steht der 35-Jährige um 5.30 Uhr auf, um mit dem Zug zur Arbeit zu fahren. Maler und Lackierer ist er, hat nach eigener Aussage einen tollen Chef. Und wenn er mal Freizeit hat, spielt er Fußball im Verein und trainiert den Nachwuchs. Er will beschäftigt sein. Arbeit und Fußball, das ist sein Leben. Die EM hat er natürlich auch geschaut. Als der Schiedsrichter im Spiel gegen Spanien keinen Handelfmeter für Deutschland vergeben hat, ist Ali Reza Amiri wütend geworden: "Tat mir sehr leid, dass Schiri so Scheiße gemacht hat."
"Beste Land in Welt, ist meine Meinung"
Wenn er nicht Fußball schaut oder selbst mit den Jungs auf dem Platz steht, schaut er ab und zu ZDF. Wenn er dann von Umfragewerten, Wahlergebnissen oder "Remigration" hört, mache ihm das große Angst, sagt er. "Deutschland ist doch jetzt mein Zuhause", sagt er. Amiri will auf keinen Fall abgeschoben werden, denn "Deutschland beste Land in Welt, ist meine Meinung", erklärt er. Im Januar muss er wieder hoffen. Dann läuft sein aktueller Aufenthaltstitel ab und alles hängt von der Entscheidung der Ausländerbehörde ab.
Aber es gibt auch vieles, was Amiri in Deutschland nicht versteht. Zum Beispiel warum er als Afghane, als er nach Deutschland kam, keinen Sprachkurs machen durfte, obwohl er unbedingt wollte. Oder warum ihm immer die Abschiebung droht, aber straffällige Geflüchtete hierbleiben dürfen. Olaf Scholz habe nämlich schon Recht, wenn er sagt, Straftäter sollen nicht in Deutschland bleiben, findet Amiri. Er will ja auch keine Straftäter in Deutschland haben. Aber die anderen, die freundlich sind, die Deutsch lernen und hier arbeiten, warum sollen die gehen? "Was ist los, Deutschland?", fragt sich Ali Reza Amiri in letzter Zeit immer öfter.
"Da dreht doch jeder irgendwann durch"
Was in Deutschland eigentlich los ist, fragt sich auch Yvonne Schwalbe aus Hohenthann (Kreis Landshut). Den Umgang der politischen Entscheider mit Geflüchteten und Anwohnern kann sie nicht verstehen. Schwalbe ist in Hohenthann aufgewachsen, hat dort ein Haus gebaut und ist fest verwurzelt in dem knapp 5.000-Seelen-Ort. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer elfjährigen Tochter lebt sie wenige Meter von einem Geschäftshaus entfernt, in dessen Keller 24 Geflüchtete untergebracht werden sollten. Schwalbe und weitere Unterstützer sind gegen die Unterkunft.
"Wir wehren uns nicht gegen die Aufnahme von Geflüchteten, aber es geht um die Anzahl", sagt sie. Die Stimmung im Ort sei angespannt, die Einwohner hätten Angst: "Nicht wegen der Menschen an sich, sondern wegen dem, was die Situation aus ihnen macht", sagt Schwalbe. In dem Gebäude sei zu wenig Platz für 24 Menschen, Schwalbe und ihre Mitstreiter befürchten, dass ein sozialer Brennpunkt entstehe. "Es gibt keine Privatsphäre für die Leute dort. Da dreht doch jeder irgendwann durch."
Würden die Flüchtlinge in kleineren Gruppen auf den Ort verteilt, mit mehr Kontakt zu den Anwohnern, könnte die Integration besser gelingen und die Hohenthanner hätten kein Problem damit, sagt Schwalbe. "Die Menschen sollten genauso leben dürfen wie jeder andere auch, sodass sie hier ein normales Leben führen können."
"Diesen Schuh werden wir uns nicht anziehen"
Sie hat darum eine Unterschriftenaktion gegen die Unterkunft gestartet, 500 Menschen haben sich inzwischen eingetragen. Die Unterkunft wurde Mitte September einstimmig im Gemeinderat abgelehnt. Schwalbe und weitere Einwohner halten aber an der Unterschriftenaktion fest, um ein Zeichen zu setzen. Die Unterschriften wollen die Hohenthanner diese Woche ans Landratsamt übergeben.
Nicht jeder in dem kleinen Ort ist von Yvonne Schwalbes Unterschriftenaktion begeistert. Es gäbe schon vereinzelt Gegenwind aus der Gemeinde und die Unterstellung, sie und ihre Mitstreiter seien ausländerfeindlich, berichtet die 36-Jährige. "Diesen Schuh werden wir uns nicht anziehen", sagt sie. Im Ort sei grundsätzlich jeder willkommen, unabhängig seiner Herkunft.
"Nicht zu groß und nicht zu viele"
Dass sich in vielen Orten die Stimmung gegenüber Flüchtlingen verändert hat, merkt auch Landshuts Landrat Peter Dreier (Freie Wähler), der aus Hohenthann stammt. Gerade am Anfang von humanitären Katastrophen sei die Bereitschaft zu helfen in seinem Landkreis immer enorm gewesen, beschreibt Dreier. Das sei mittlerweile nicht mehr der Fall. Vor allem bei der Suche nach Gebäuden für die Unterbringung von Flüchtlingen käme kaum noch Unterstützung aus der Bevölkerung. Sind Flüchtlingsunterkünfte geplant, regt sich oftmals enormer Widerstand in den Gemeinden. Was geplante Unterkünfte angeht, so fordern laut Dreier viele Anwohner: "Nicht zu groß und nicht zu viele".
Warum die Willkommenskultur in Deutschland abgenommen hat, hat laut Peter Dreier mehrere Ursachen. Zum einen sei durch sämtliche Krisen das Leben für die eigene Bevölkerung schwerer geworden. Preise steigen, über die Kürzung von Sozialleistungen wird diskutiert - während es oft den Eindruck mache, dass jeder nach Deutschland kommen könne und hier direkt Geld vom Staat bekomme. Das würde die Menschen aufbringen, sagt Dreier.
Vorfälle in der Region verursachen Angst
Zum anderen spiele Angst eine große Rolle. Durch abgelehnte Asylbewerber begangene Anschläge wie in Mannheim oder Solingen würden das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zerstören. Im Mai hatte ein Islamist in Mannheim einen Polizisten mit einem Messer getötet, in Solingen tötete ein Islamist auf einem Stadtfest drei Menschen und verletzte acht weitere schwer.
In Hohenthann erinnern sich viele noch einen Vorfall in einer dortigen Bäckerei 2016: Dort drohte ein syrischer Asylbewerber sich mit einem Messer etwas anzutun. Polizisten mussten die Bäckerei räumen und konnten den Mann schließlich überreden, das Messer wegzulegen. Vorfälle wie diese prägen sich ein und machen Angst.
Laut Dreier kommt es vor allem bei Abschiebungen immer wieder zu gefährlichen Situationen. 2018 habe ein nigerianischer Flüchtling im Landratsamt in Landshut einem Polizisten die Dienstwaffe entrissen und Mitarbeiter bedroht, als diese ihm seine Abschiebung mitteilten. Weil die Waffe doppelt gesichert war, löste sich damals kein Schuss.
"Die san doch ned dumm, unsere Leid"
Fälle wie dieser und die aus Bevölkerungssicht oftmals zu milden Konsequenzen machen die Leute wütend, sagt Dreier. Die Menschen würden merken, dass der Staat im Umgang mit Geflüchteten oftmals überfordert sei: "Die san doch ned dumm, unsere Leid." Dazu kommt, dass die Menschen oft nicht verstehen können, warum manchen Flüchtlingen, die deutsch lernen, Arbeit haben und ihr Bestes geben sich zu integrieren, die Abschiebung droht, während manch andere straffällig werden und weiter im Land bleiben dürfen.
Dreier wünscht sich eine striktere Migrationspolitik und sagt zur aktuellen Situation: "So darf es gar nicht weiterlaufen, das wird schwierig für unser ganzes Land." In Bayern fühlt sich Dreier mit seinen Anliegen gehört, auf Bundesebene nicht. Er fordert von der Bundespolitik einen Blick in Gemeinden und Kommunen - dorthin, wo Geflüchtete dann tatsächlich zurechtkommen müssen.
Der Landrat findet aber auch ermutigende Worte. Es gäbe viele Menschen in seinem Landkreis, die immer noch in der Flüchtlingshilfe aktiv seien und ebenso Geflüchtete, die ein hohes Maß an Eigenverantwortung zeigten und sich bemühen würden, auf eigenen Beinen zu stehen. Yvonne Schwalbe betont ebenfalls, dass man nicht pauschalisieren dürfe. Auch sie kennt Geflüchtete, die alles geben würden, um in Deutschland Fuß zu fassen. Solche Menschen seien in Hohenthann stets willkommen. Ali Reza Amiri wäre vermutlich einer davon.
Ausreisepflichtige in Bayern
Laut Daten des Bayerischen Landesamtes für Asyl- und Rückführungen waren Anfang September rund 26.000 Personen in Bayern ausreisepflichtig, davon je 2.000 in Niederbayern und der Oberpfalz. Ausreisepflichtig ist jeder, der keinen Aufenthaltstitel erhält - also etwa Personen, deren Asylverfahren rechtskräftig negativ ausfällt. Knapp 20.000 dieser Personen werden geduldet. Sie halten sich also nicht rechtmäßig in Deutschland auf, können aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden.
Das kann dann der Fall sein, wenn sie keine Ausweisdokumente haben oder nicht abgeschoben werden können wegen Krankheit, der Situation im Herkunftsland oder wenn die Abschiebung eine unzumutbare Trennung von Familien bedeuten würde. Rückführungen werden von Ländern durchgeführt, die Regeln dafür legt aber der Bund fest.