AZ-Interview
Thomas Broich: "Die Bayern haben wieder eine echte Achse"
18. Juli 2020, 8:00 Uhr aktualisiert am 18. Juli 2020, 8:00 Uhr
Taktik-Experte Thomas Broich im AZ-Interview über die Unterschiede zwischen Flick und Kovac, das extreme Pressing, Schlüsselspieler, die Aussichten für die Königsklasse - und Leon Goretzkas Oberarme.
München - Der ehemalige Profi Thomas Broich (39, u.a. 1. FC Köln, 1. FC Nürnberg) arbeitet als Taktik-Experte für die ARD und trainiert aktuell zusätzlich zusammen mit seinem Kompagnon Jerome Polenz noch die U15 von Eintracht Frankfurt.
AZ: Herr Broich, Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge hat seinen Trainer Hansi Flick gerade mit einem Lottogewinn verglichen. Da kann man ihm kaum widersprechen, oder?
THOMAS BROICH: Wenn man sich Hansi Flicks Bilanz anschaut, ist das ja phänomenal. Die Bayern haben nach seiner Übernahme lediglich gegen Gladbach und Leverkusen verloren und waren selbst da über weite Strecken hochüberlegen. Und dann gab es noch ein 0:0 gegen RB Leipzig. Also ich finde das Wahnsinn, wie Flick diese Mannschaft transformiert hat. Und das quasi über Nacht.
Was macht Flick taktisch anders als sein Vorgänger Niko Kovac?
Ich finde, dass Bayern unter Flick wieder mutiger spielt. Sie laufen wesentlich höher an und gehen hinten auch viel mehr Risiko. Zudem praktizieren sie ein enorm variables Positionsspiel. Grundsätzlich geht es für einen Trainer ja darum, ob er die Mannschaft mit seiner Art Fußball zu spielen abholen kann. Niko Kovac ist das in Frankfurt zu 100 Prozent gelungen. Er ist ein sehr, sehr kontrollierter Trainertyp und dort hat das super funktioniert.
Ist die Dominanz der Bayern allein durch ihr intensives Pressing zu erklären?
Flicks Spielweise kommt bei den Spielern extrem gut an. Spielertypen wie Thomas Müller oder Joshua Kimmich liegt es im Blut, vorne drauf zu gehen, den Gegner förmlich zu erdrücken. Das Pressing ist ein großer Faktor, aber da gehören noch andere Dinge dazu. Bayern spielt eine extrem hohe Linie, sie können im Mittelfeld Druck auf den Ballführenden ausüben, weil die letzte Kette so hoch rückt. So stellt man Kompaktheit her. Aber dafür brauchst du natürlich extrem schnelle Innen- und Außenverteidiger.
Die haben die Bayern zweifellos.
David Alaba auf die Innenverteidiger-Position zu stellen, Alphonso Davies auf Außen - das war der Schlüssel, eine Umstellung, die im Übrigen noch auf Kovac zurückgeht. Bestes Beispiel ist der letzte Clasico gegen Dortmund. Da wurde Haaland anfangs schon ein-, zweimal in die Tiefe geschickt, aber dann kommt halt Davies mit seinem Speed und regelt das.
"Bayern-Defensive spielt herausragende Rolle in dieser Erfolgsgeschichte"
Aber irgendwie müssen die Flick-Bayern doch zu knacken sein?
Die große Gefahr, die es bei ihrer Spielweise gibt, ist der berühmte Ball hinter die Kette. Bayer Leverkusen hat das im Pokalfinale versucht. Bailey, Havertz und Diaby, das sind alles Pfeile, die dir total weh tun können. Aber selbst wenn Bayern mal überspielt wird, dann haben sie mit Davies, Pavard oder Alaba eben Jungs, die in diese Tempoläufe gehen können. Wir reden viel über Lewandowski, Müller oder Gnabry und das ist auch alles richtig so. Aber ich finde, dass die Bayern-Defensive eine besonders herausragende Rolle spielt in dieser Erfolgsgeschichte. Und eine weitere Sache war in letzter Zeit auffällig.
Welche?
Die Bayern haben überall auf dem Platz eine enorme physische Wucht entwickelt. Vorne Lewandowski und Müller, im Mittelfeld Kimmich und Goretzka, der mit einem Bizeps a la Arnold Schwarzenegger aus der Corona-Pause kam, und dann hinten in der Kette vier Modellathleten - von denen lässt sich keiner einfach so wegdrücken. Selbst wenn die Bayern ausnahmsweise mal nicht den Ball kontrollieren, kontrollieren sie mit ihrer Präsenz und Durchsetzungsfähigkeit immer noch die Räume.
Wer sind aktuell die Schlüsselspieler für das Flick-System?
Die Bayern haben wieder eine echte Achse, beginnend mit Neuer im Tor. Es gibt immer wieder Gegner wie Leverkusen im Pokalfinale, die durch hohes Anlaufen versuchen, die Bayern früh zu Fehlern zu zwingen. Ein durchaus legitimer Ansatz, der aber bei einem Torhüter von der fußballerischen Qualität eines Manuel Neuer auch schnell mal ins Leere greift. Wie der immer wieder selbst unter Druck die Seite wechselt oder mit einem Chipball ins Mittelfeld den Angriff einleitet, ist sensationell. Oder auch Boateng und Alaba mit ihrer grandiosen Spieleröffnung, mit der sie die gegnerische Abwehr auseinanderreißen. So entstehen Räume, die dann ein Lewandowski oder ein Müller gnadenlos ausnutzen.
Wie passt Leroy Sané ins System, muss der Trainer für seinen neuen Star die Balance verändern?
Überhaupt nicht. Das Bayern-Spiel ist in der Post-Ribéry-Robben-Ära zwar nicht mehr so abhängig von den Flügelspielern, aber sie sind natürlich noch total wichtig: in den Eins-gegen-Eins-Situationen, bei Chipbällen hinter die Abwehr oder bei Kontern. Und jetzt hat Bayern eben mit Sané noch eine Rakete mehr auf Außen. Früher hat da manchmal Müller aushelfen müssen, das ist jetzt gar nicht mehr nötig.
Keine allzu guten Aussichten für die Bundesliga-Konkurrenz. Sind die Bayern aktuell auch international das Maß der Dinge? Stichwort Champions League…
Bayerns Chancen auf den Titel sind natürlich sehr gut. Zumal ja mit Liverpool ein Team schon aus dem Wettbewerb ist, das ihnen wirklich weh tun könnte. Es gibt nicht viele Mannschaften, die die Räume im Rücken besser bespielen als die Reds. Aber die Champions League kann man eigentlich nie richtig planen. Vieles hängt von Verletzungen und der Tagesform ab. Und speziell für die Bayern gilt in den nächsten Wochen: Wie bekommt man jetzt diese Pause überbrückt? Und kann man dann einfach so wieder hochfahren? Die anderen Mannschaften spielen aktuell ja weiter.
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