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AZ-Serie: Rosi Mittermaier und ihre Kinder: Großes Glück und große Sorgen
10. Januar 2023, 18:04 Uhr aktualisiert am 10. Januar 2023, 18:04 Uhr
Lange hatte Felix Neureuther auf diesen Tag gewartet. Mehr als sieben Jahre war er schon im Weltcup unterwegs, bei seinen bis dahin 106 Rennen war er sechs Mal auf dem Trepperl gestanden. Aber noch nie ganz oben. Zweifel kamen schon auf, ob das überhaupt noch mal was wird mit einem Weltcup-Sieg. Aber dann kam der 24. Januar 2010, Kitzbühel. Der Slalom auf dem legendären Ganslernhang, auf dem 31 Jahre vor ihm schon sein Vater gewonnen hatte und auf dem nun auch der Felix triumphierte und all die großen Namen hinter sich ließ. Raich, Hirscher, Kostelic, Matt.
Nach den ersten Ehrungen im Zielraum war Neureuther also zu Fuß auf dem Weg zur Pressekonferenz, als er kurz vor dem Medienzentrum neben dem Kitzbüheler Bahnhof seine Mutter traf. Ein denkbares Szenario als Reaktion der Mama in solch einem Moment hätte überschwänglich ekstatischer Enthusiasmus sein können, Freudentränen, Freudentänze, hysterisches Gekreische oder ein Abgebussel bis zum Delirium. Nichts dergleichen in diesem Fall.
Denn Rosi Mittermaier war nur entsetzt - weil der Felix an diesem zapfigen Wintertag mit Turnschuhen durch den Schnee stapfte. "Mei, Bua, des is ja vui z'koid", sagte sie erschüttert. "Host koane gscheidn Winterstiefi dabei."
Ein typischer und sehr bezeichnender Rosi-Moment eben. Weil ihr viel wichtiger als der sportliche Erfolg immer die Gesundheit ihrer beiden Kinder war.
1981 waren Rosi Mittermaier und Christian Neureuther mit Tochter Ameli erstmals Eltern geworden, 1984 folgte Felix. Wie schwierig es war, als berühmte Persönlichkeiten ein unbeobachtetes Familienleben zu führen, zeigte sich 1987, als zwei Kriminelle wochenlang geplant hatten, die Erstklässlerin Ameli auf dem Schulweg zu kidnappen. Die Entführung konnte von der Polizei im letzten Moment vereitelt werden, im Wohnwagen der Täter fanden sich Erpresserbriefe mit Lösegeldforderungen.
Ein riesiger Schock sei das damals gewesen, meinte die Rosi Jahre später einmal, eine Erfahrung, die sie nur bestärkt habe, ihre Kinder vor der Öffentlichkeit zu schützen. "Wir wollten nie Promi-Eltern sein", sagte sie. "Nur eine ganz normale Familie." Deswegen habe man der Ameli und dem Felix zwar schon früh das Skifahren beigebracht, ohne sie aber dabei auf eine erfolgreiche Karriere im Leistungssport hinzutrimmen, wie Rosi Mittermaier erzählte. "Es ging uns immer nur drum, dass die beiden glückliche Menschen werden, egal was sie am Ende machen."
Dass sie keinen Druck ausüben, die Kinder sich selbst entwickeln lassen wollten, das belegt auch die Episode, als Rosi Mittermaier ihrem kleinen Felix bei einem Spiel in der Jugend des FC Garmisch zuschaute. Wie üblich wussten viele aufgeregte Eltern alles besser, vor allem Väter gaben übereifrig Ratschläge, brüllten aufs Feld und schimpften ihre Kinder nach misslungenen Aktionen - bis es der Rosi reichte und sie rief: "Herrschaftszeitn, jetzt lasst's halt die Buam einfach mal spuin." Danach war es ruhig am Spielfeldrand. Und die Buam spielten einfach mal.
Einfach mal nur skizufahren, das war für die beiden freilich schwieriger, als Kinder zweier solch erfolgreicher Rennläufer. Dabei galt auch Ameli Neureuther lange im Juniorenkader des DSV als großes Talent, fuhr bei FIS-Rennen und Deutschen Jugendmeisterschaften mit - bis sie sich mit 16 vom alpinen Wettkampfsport verabschiedete. Schon damals wurde sie bei den Rennen oft als "Tochter von…" präsentiert. Und die Aussicht, noch viele Jahre immer nur an den Erfolgen der Eltern gemessen zu werden, darauf verzichtete sie gern. So studierte sie Kunst an einem Internat in Cambridge, besuchte eine Modeschule in München, arbeitete in New York und später für Wolfgang Joop in Berlin und lebt heute als erfolgreiche Designerin wieder in Garmisch.
Felix hingegen entschied sich trotz der permanenten Vergleiche und ewigen Fragen zu Vater und Mutter ganz bewusst für eine Karriere im alpinen Spitzensport. Vom sympathischen Chaoten, der in den ersten Weltcup-Jahren sowohl mit launigen Sprüchen wie auch mit vielen Ausfällen auffiel, entwickelte er sich zu einem erfolgreichen Top-Athleten mit klarer Meinung. Seine Eltern wusste er dabei immer hinter sich, Vater Christian als das Korrektiv, der ihn nach schludrigen Rennen schon auch mal zusammenstauchte ("So kannst das Skifahren auch bleiben lassen"). Und Rosi als Ruhepol, als die Mama, die seine Konkurrenten und Freunde wie Julian Lizeroux und Aksel Lund Svindal daheim in Garmisch bekochte und dem US-Amerikaner Ted Ligety nach seinen vielen Wochen in Europa auch mal die Wäsche wusch und die Unterhosen bügelte.
Natürlich freute sie sich mit ihm und für ihren Sohn, nach Erfolgen wie damals in Kitzbühel. Und natürlich litt sie mit ihm wie später in Sotschi. 2014, bei den Winterspielen, als der Felix auf dem sportlichen Zenit seiner Karriere als großer Mitfavorit auf Slalom-Gold galt - bevor er auf dem Weg zum Flughafen bei Glatteis auf der A95 in die Leitplanke rauschte, sich ein Schleudertrauma zuzog, die Rippen prellte und die Bänder dehnte. Bei einer Begegnung tags darauf sagte Rosi Mittermaier: "Ob er startet oder nicht, ist mir wurscht. Hauptsach, er wird wieder gsund."
Was er seiner Eltern zu verdanken habe, das schrieb Felix Neureuther vor zweieinhalb Jahren zu Rosis 70. Geburtstag. "Du und Papa, ihr habt uns stets Bodenständigkeit vorgelebt, und besonders die Liebe zur Natur. Dass man als Familie zusammenhält! Und Respekt hat vor allen Menschen!"
Werte, die Rosi Mittermaier in den letzten Jahren auch als Oma weitergab: Enkel Oskar, dem mittlerweile siebenjährigen Sohn von Ameli, und den drei Kindern von Felix und seiner Frau Miriam. Mathilda (5), Leo (2) und der im vergangenen April geborenen Lotta, mit denen sie immer wieder bei sich im Garten spielte und ihnen die Namen der Pflanzen und Blumen beibrachte und die sie, wie sie einmal sagte, "nicht mit Schokolade verwöhnen" wolle. "Sondern mit Zeit."
Werte, die auch Felix Neureuther seinen Kindern in der Erziehung vermitteln wird. Nächstenliebe, Toleranz, Demut und Dankbarkeit für ein glückliches Leben. Und so wie seine Mama einst ihn wird auch er dann sicher schimpfen. Wenn sie im Schnee Turnschuhe tragen.
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