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Kansas-City-Trainer Reid: Guru mit trauriger Geschichte

Andy Reid ist einer der besten Football-Trainer der Welt, die Kansas City Chiefs hat er in den Super Bowl gegen sein Ex-Team Philadelphia geführt. Doch sein Leben ist von der Tragödie um seinen Sohn geprägt.


Von Matthias Kerber

Wenn man Andy Reid so sieht, würde man nie auf die Idee kommen, dass er im Leistungssport tätig ist. Der 64-jährige Mormone ist schwer übergewichtig, tapst wie ein Bär durch die Gegend, der dicke Schnurrbart ist fast immer zu lang, um als modisch oder adrett zu gelten, seine kleinen Äuglein blitzen lustig hinter der Brille hervor.

Reid wirkt wie der liebe, knuddelige Onkel, der launige Nachbar von nebenan, bei dem man beim Grillabend mit einem gemütlichen Bier in der Hand ein bisschen Small Talk über American Football hält.

Da erzählt er gerne die Anekdote, wie er als junger Kerl bei einem Caterer, der an vielen Drehorten tätig war, arbeitete und auf Western-Legende John Wayne traf. Der wollte einen Nachschlag Fleischbällchen haben, doch der junge Andy verweigerte das kulinarische Ansinnen. "Mein Chef hat mir eingebläut: "Nur drei Fleischbällchen für jeden. Egal, wer es ist. Also bekam auch John Wayne keinen mehr. Hätte ich gewusst, dass er mal ein Footballer war, hätte ich es aber getan."

Doch Reid, der mit seinem trockenen Humor seine größte Leidenschaft als "Essen, speziell Cheeseburger" beschreibt, verfügt über einen Verstand, der zu den brillantesten, schärfsten aber auch aggressivsten im Football verfügt. Reid ist der Cheftrainer der Kansas City Chiefs, die er nun zum dritten Mal nach 2020, als sie im Finale über die San Francisco 49ers triumphieren konnten, und 2021 in den Super Bowl geführt hat.

Dort kommt es in der Nacht auf Montag (0.30 Uhr, ProSieben) zum Showdown mit den Philadelphia Eagles - Reids Ex-Verein, den er von 1999 bis 2012 trainiert hat, ehe er seine Sachen packen musste und 2013 bei den Chiefs anheuerte.

"Jeder glaubt, dass es für mich eine besondere Partie ist, weil es gegen die Eagles geht. Aber es ist ein Football-Spiel wie jedes andere. Oder, nein, ist es nicht - es ist der Super Bowl", sagte Reid mit seinem unergründlichen Lächeln. Bei ihm weiß man oft nicht, ob er das, was er gesagt hat, so meint, oder, ob er sich auf Kosten der Zuhörer einen Scherz erlaubt hat, den aber nur er versteht.

"Man muss Reid einfach lieben, man kann ihn gar nicht nicht-mögen", sagte die Football-Ikone Sebastian Vollmer, der als einziger Deutscher überhaupt den Super Bowl zwei Mal gewinnen konnte (2015 und 2017 an der Seite von NFL-Legende Tom Brady mit den New England Patriots) der AZ: "Er ist ein ganz anderer Trainer als all die anderen Coaches. Er ist ruhig, entspannt. Man sieht, man kann auch so enormen Erfolg haben."

Und enormen Erfolg hat er. Reid war der erste Coach in der NFL-Historie, der es geschafft hat, mit zwei unterschiedlichen Teams - den Eagles und den Chiefs - je über 100 Partien in der Liga zu gewinnen. Zwei Mal triumphiert er im Super Bowl, 1997 als Assistenztrainer mit den Green Bay Packers, und eben 2020 mit den Chiefs.

Die galten als Versager-Team. Reid krempelte das Team um, die Chiefs wurden zu einem aggressiven Angriffsteam. Vor allem erkannte Reid das Jahrhunderttalent, das in Quarterback Patrick Mahomes schlummerte. Den holten die Chiefs im Draft 2017 an zehnter Stelle. Die neun Teams - Cleveland, Chicago, San Francisco, Jacksonville, Tennessee, NY Jets, LA Chargers, Carolina und Cincinnati - davor dürften sich fast alle noch grün, blau und schwarz ärgern, dass sie Mahomes die kalte Schulter gezeigt haben.

Mit Mahomes, dem Mann mit den verrückten Würfen, hatte Reid das fehlende Puzzleteil gefunden. Football-Guru Reid, der als Spielerflüsterer und Quarterback-Versteher gilt, und Mahomes, das war ein Traum-Duo und ein Albtraum für alle Gegner. Zusammen triumphierten sie im Super Bowl gegen die 49ers, die wie sichere Sieger aussahen - und auch gewonnen hätten, wären ihnen nicht Mahomes und Reid gegenübergestanden. Mit bedingungsloser Attacke und der Improvisationskunst von Mahomes rissen die Chiefs den 49ers die sicher geglaubte Vince-Lombardi-Trophäe noch aus den Händen.

Das Bild, als Reid mit Tränen in den Augen den Pokal küsste, annagte, in die Höhe hielt, ging um die Welt. Seine Familie war im Moment seines größten sportlichen Triumphes dabei.

Alle bis auf Sohn Garrett. Der war am 5. August 2012 tot in seinem Zimmer der Lehigh University, wo die Eagles trainierten, aufgefunden worden. Den Job als Fitnesscoach des Teams hatte ihm der Papa besorgt.

Garrett wurde 29 Jahre alt. Drogen waren seit seiner Jugend sein fürchterlicher und am Ende tödlicher Begleiter. 2007 war er im Gefängnis gelandet, weil er unter Drogeneinfluss einen schweren Autounfall verursacht hatte. Selbst ins Gefängnis versuchte Garrett Drogen einzuschmuggeln.

"Ich will nicht an Drogen krepieren. Ich will nicht als der Sohn des Cheftrainers des Eagles bekannt sein, der an einer Überdosis gestorben ist - und dann vergessen wird", sagte Garrett bei der Gerichtsverhandlung.

Doch der erste Teil sollte leider wahr werden. Garrets Leiche wurde um 7.20 Uhr gefunden, um 10 Uhr erhielt Andy Reid den Anruf, der ihm das Herz brach. Immer wieder hatten die Reids versucht, Garrett von den Drogen wegzubekommen, doch die Sucht war stärker. Der Dämon Drogen forderte seinen finalen Tribut. Für drei Tage zog sich der Papa völlig zurück - dann stand er wieder auf dem Platz. "Garrett hätte es so gewollt", sagte der Papa.

Im Herzen ist Garrett immer dabei. Beim Super-Bowl-Triumph waren die Söhne Britt, Spencer und die Töchter Drew Ann und Crosby ebenso im Stadion wie Reids Frau Tammy: "Es war ein spezieller Tag. Wir waren alle da - außer G", sagte Tammy, "Es ist so traurig. Aber ich weiß, dass er von oben zuschaut."

Papa Reid widmete den Sieg seinem verstorbenen Sohn. "Das ist für dich!"

Doch die Dramen waren damit im Hause Reid nicht beendet. Sohn Britt, der im Trainerstab bei den Chiefs tätig war, verursachte im Februar 2021, kurz vor dem Super Bowl, den die Chiefs gegen Tampa Bay verlieren sollten, einen Autounfall bei dem ein Kind schwer verletzt wurden. Die Blutprobe bei Britt ergab 1,13 Promille. "Mein Herz ist bei allen, die in diesen Unfall verwickelt waren, insbesondere der Familie des Mädchens, das um sein Leben kämpft."

Sie gewann den Kampf, Britt Reid wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Zumindest dieses Drama endete ohne Todesfall.