Überblick
Kapitän Kimmich und die Katharsis
23. März 2023, 17:57 Uhr aktualisiert am 23. März 2023, 17:57 Uhr
Frankfurt - Dass bei Muskelmann Leon Goretzka auf die überbordenden Oberarme geblickt wird, ist ganz normal. Im Vergleich dazu sind die Arme von Joshua Kimmich von eher überschaubaren Ausmaßen. Am Samstag (20.45 Uhr, ZDF) beim Länderspiel gegen Peru in Mainz, dem ersten Auftritt der DFB-Truppe seit dem blamablen Vorrunden-Aus bei der WM in Katar, wird nicht nur Fußball-Deutschland, sondern werden auch alle die, die sich wünschen, dass der Sport nicht nur in einem selbstgewählten entpolitisierten Scheuklappen-Biotop lebt, auf Kimmichs linken Oberarm schauen.
Dort wird es keine Regenbogenfarben, keine One Love-Symbole geben, dort wird es schwarz-rot-gold scheinen. Bundestrainer Hansi Flick und der neue DFB-Direktor Rudi Völler haben nach dem Binden-Chaos bei der WM, als man erst ein Zeichen für Toleranz setzen wollte, die Fifa dies aber ganz intolerant untersagte, und der DFB sich dann zu einer bemüht plakativ-provokanten Mund-zu-Alibi-Geste durchgerungen hatte, ein Machtwort gesprochen. Es geht um Fußball, Fußball, Fußball - nichts sonst.
"Es darf nicht noch mal so sein, dass diese Dinge im Fokus stehen, sondern die Mannschaft sollte einfach Fußball spielen. Sie soll gut Fußball spielen, das ist ihr Auftrag. Da sind wir uns einig", sagte Flick.
Also wird Kimmich sein Jubiläum - er trägt zum 75. Mal den Bundesadler auf der Brust - zwar als Kapitän, aber ohne weitere Aussage oder Symbolkraft begehen. Mit den Spielen gegen Peru und drei Tage später gegen Belgien soll mit Blick auf die Heim-WM 2024 ein Neuanfang beginnen - auf vielen Ebenen. In der Außendarstellung, in der Art, wie man sich gesellschaftspolitisch präsentiert, aber auch personell.
Flick hat für die Länderspiele sechs Neulinge eingeladen und auf viele Etablierte verzichtet. Niklas Süle (Dortmund), Ilkay Gündogan (ManCity) und Antonio Rüdiger gehören ebenso zu den Spielern, die vorläufig auf dem Abstellgleis gelandet sind, wie Kimmichs Bayern-Kollegen Leroy Sané und Thomas Müller. "Ich war nicht überrascht, dass der eine oder andere neu dabei ist. Ich war eher überrascht, dass der eine oder andere nicht dabei ist", sagte Kimmich dazu im "Merkur". Gerade Süle, Sané und Rüdiger "hätte ich schon auf der Liste erwartet. Die Phase wird jetzt ganz wichtig sein, um auch noch mal gewisse Dinge aufzuarbeiten. Dann aber auch gewisse Ziele für die kommenden Monate zu setzen."
Das Länderspiel ist für Kimmich auch seine ganz persönliche Katharsis. Das WM-Aus in der Gruppenphase, diese Demütigung in Katar, ist dem 28-jährigen Bayern-Star nicht nur nahe gegangen, es hat ihn in seinen Grundfesten, in seinem Selbstverständnis erschüttert.
"Das ist sicher für mich der schwierigste Tag meiner Karriere", sagte Kimmich nach dem 4:2 gegen Costa Rica: "Am Ende des Tages muss man schon sagen, dass auch viel Unvermögen dabei war. Ich werde mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht. Das ist nichts, wofür man stehen möchte. Ich habe Angst, dass ich in ein Loch falle."
Dieses Loch, es ging für Kimmich dann im Februar auf - anders als er dachte und viel tiefer, viel schwärzer, viel fürchterlicher, als er sich das in Katar hatte vorstellen können. Am 4. Februar verlor Tim Lobinger, der lange Kimmichs Personal Coach, der einer seiner engsten und besten Freunde war, für dessen Sohn Okkert er sogar der Patenonkel ist, seinen langjährigen Kampf gegen die Leukämie.
Die deutsche Leichtathletik-Ikone, der erste Deutsche, der im Stabhochsprung die magische 6-Meter-Marke gemeistert hatte, wurde nur 50 Jahre alt. Als Lobinger seinen allerletzten Atemzug nahm, saß Kimmich mit am Krankenbett, das zum Sterbebett wurde. "Wir waren alle bei ihm", sagte seine Frau Alina, von der Lobinger aber getrennt war. Alle, das waren nur acht Personen - unter ihnen Kimmich und dessen Frau Lina.
"Es ist nicht einfach, in Worte zu fassen, was du für mich warst und bleibst. Ich habe dich mehr bewundert als jeden anderen. Ich habe immer zu dir aufgesehen, weil du in allen Bereichen des Lebens eine Inspiration und ein Vorbild für mich bist. Du warst und bleibst mein Antrieb, mein Motor und meine Motivation", meinte Kimmich, der bei der Beisetzung am Waldfriedhof, dem letzten Weg Lobingers, Patenkind Okkert an der Hand hielt, über seinen Freund. Einer seiner schwersten Gänge, dagegen verblassen alle Probleme, die der Sport mit sich bringt.