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Simon Geschke: "Der Bergkönig der Herzen - das klingt für mich wie der Trostpreis!"

Das Maillot à pois rouges, das Trikot für den besten Bergfahrer, war Simon Geschkes großer Traum im vergangenen Sommer. Exklusiv in der AZ spricht der 36-Jährige über die harte Tour - und harte Musik.


Harte Rennen und harte Musik: Geschke im Tour-Kampfmodus - und bereit für Guns n'Roses.

Harte Rennen und harte Musik: Geschke im Tour-Kampfmodus - und bereit für Guns n'Roses.

Von Ruben Stark

AZ-Interview mit Simon Geschke: Der 36 Jahre alte Radprofi stammt aus Berlin und lebt in Freiburg. Er ist seit 2009 Profi und der Sohn des früheren Bahnrad-Weltmeisters Hans-Jürgen Geschke.

AZ: Herr Geschke, Sie haben bei der Tour de France eine der Sportgeschichten des vergangenen Jahres geschrieben und sind dafür als deutscher Radsportler des Jahres ausgezeichnet worden. Wer hat 2022 mehr gerockt? Simon Geschke oder Guns n'Roses?
SIMON GESCHKE: Beide sind im Herbst der Karriere, würde ich sagen - und machen aber das Beste draus. (lacht) Vielleicht kann man das so sagen.

Guns n'Roses gehören zu Ihren Lieblingsbands. Woher kommt die Vorliebe zum Hardrock?
Ach, das fing früh an. Ich bin ja schon ein bisschen älter und damals hatten meine Eltern einen Plattenspieler. Ich hab da immer eine Elvis-Schallplatte gehört. Das hat sich weiterentwickelt, auch durch die Pubertät. Da habe ich dann mehr Metal gehört und danach kam dann irgendwann auch die Liebe zu älterer Rockmusik. Jimi Hendrix, Led Zeppelin, dann auch Guns n' Roses. Vieles verschiedene einfach, viele gute Bands aus der Zeit. Und das ging eben bis heute so weiter.

Dann war es ja eine glückliche Fügung im vergangenen Herbst: Sie waren vom Veranstalter der Tour de France nach Japan eingeladen zu einem Kriterium - und dort spielten an dem Tag in Saitama zufällig Guns n'Roses.
Das war ein Riesenzufall und ich habe das wirklich erst an dem Tag erfahren, dass die fußläufig von unserem Hotel spielen. Das Rennen war an einer ganz neugebauten Arena, wir sind sogar auf den Rädern durch einen Bereich der Halle gefahren. Nicht durch den Hauptteil, weil da haben Guns n'Roses gespielt. Als ich dann tatsächlich noch eine Karte bekommen habe, musste ich quasi nur die Treppen hochgehen und war beim Konzert. Das war schon extrem cool.

Und Ihr erstes Live-Erlebnis der Band. . .
Ich hatte die Tour-Daten gar nicht im Kopf, aber es war immer ein Traum, die mal live zu sehen. Ich hatte gehofft, dass es klappt, wenn ich mal nicht mehr Rad fahre. Ich wohne ja in Freiburg und das ist nicht so die Gegend, wo Guns n'Roses hinkommen. Die kommen entweder nach München oder Berlin - und das war's dann schon in Deutschland. Das geht aber eben nicht bei mir, weil ich entweder bei Rennen bin oder zu Hause trainiere. Aber dann habe ich gesehen: Die spielen in Saitama. Das war schon ein abartig großer Zufall und ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dabei zu sein.

Und passenderweise das richtige T-Shirt im Gepäck gehabt.
Das hatte ich auch, ja. Eines meiner Lieblings-T-Shirts, ich hatte es 2016 in Tokio gekauft. Es sah schon ganz schön mitgenommen aus, aber jetzt habe ich gleich ein neues gekauft von der Tournee.

Die Auszeichnungen, die Reise mit der ASO zu den Kriterien in Asien. All das hat dieses tolle Jahr für Sie abgerundet, oder?

Ich habe die Saison auch für mich persönlich noch mal Revue passieren lassen. Das war ein schönes Ende - und ich als einer der Protagonisten der Tour dabei. Das Jahr lief bis zur Tour supergut für mich, das war bombig, danach war ein bisschen die Luft raus, da wäre ich gerne besser gefahren, etwa bei der Deutschland Tour.

Ist Simon Geschke wie ein Rotwein - je älter desto besser?
Ich werde bis jetzt auf jeden Fall nicht schlechter im Alter. Ich bin 36, mal sehen, was die nächsten beiden Jahre noch bringen. Solange habe ich noch Vertrag beim französischen Team Cofidis. Ich bin froh, wenn ich mein Level so halten kann und ich habe bei Cofidis auch die Freiheiten, so was wie bei der Tour zu machen. Ich bin auf jeden Fall noch motiviert und hoffe, dass ich weiter noch vorne mitfahren kann.

Was war für Sie persönlich größer, die Tour 2022 oder die Tour 2015 mit Ihrem grandiosen Etappensieg in den Alpen?
Die Tour 2015 wird immer die schönste bleiben mit dem Etappensieg, die größere war die vergangenes Jahr von der Resonanz her. Es war auch die schwerere, weil ich gefühlt die halbe Tour in einer Ausreißergruppe war und probiert habe, Bergpunkte zu sammeln. 2015 war das nicht so, aber da hat es mit dem ganz großen Wurf geklappt, das war einer der unvergesslichsten Momente.

Wann kam bei der Tour 2022 der Gedanke, das könnte was werden mit dem Bergtrikot?
Nach den Alpen, als ich es dort verteidigt hatte, dachte ich schon, dass es klappen könnte. Da kamen noch die Pyrenäen und wir haben den Plan gemacht, dass wir das Trikot bis Paris bringen wollen. Die ersten beiden Tage in den Pyrenäen liefen auch ganz gut und ich dachte, ich kriege das auch am letzten Tag noch mal hin. Na ja, den Rest kennt ja jetzt jeder. . .

Sie sind noch vom späteren Tour-Champion Jonas Vingegaard, der sich neben dem Gelben auch das Bergtrikot sicherte, abgefangen worden. Wenn man so viel investiert hat und es reicht dann um Haaresbreite nicht: Wie tief sitzt da der Schmerz?
Ich bin mit einem stolzen Gefühl aus Paris abgereist, aber es wird trotzdem das bleiben, was es ist: eine Riesenchance, die ich verpasst habe. Das Trikot hat noch nie ein Deutscher gewonnen und das wäre eines der Highlights meiner Karriere gewesen. Aber an dem einen Tag haben wir auch taktische Fehler gemacht, ich selbst war vielleicht auch zu nervös. Es wird deshalb immer einen Beigeschmack haben. Wenn man so nah dran ist, tut eine Niederlage doch mehr weh, als wenn ich das Trikot einige Tage vorher verloren hätte. Ich war dann auch körperlich komplett am Ende die letzten drei Tage, bin ein bisschen krank geworden, war leer und musste das Trikot trotzdem bis Paris tragen. Das habe ich natürlich nicht mehr so genossen. Es tut tatsächlich immer noch weh, wenn ich zurückdenke.

Tröstet der Zuspruch der Fans, den es reichlich gab, dass man sozusagen Bergkönig der Herzen war - oder will man nichts davon hören?
Klar, ist es schön, dass die Leute das trotzdem so gefeiert haben. Es freut mich, dass sie diesen Kampf genossen haben, dass es so spannend war und es gewürdigt wird, dass ich eine Woche lang um jeden Punkt gefightet habe. Aber Bergkönig der Herzen, das ist etwas, das freut mich jetzt nicht wirklich, das klingt wie der Trostpreis. Aber ja, es geht auch um den Unterhaltungsfaktor und wenn die Leute nicht nur den Sieger feiern, sondern auch die Show genießen - das fehlt manchmal in der deutschen Mentalität.

Können Sie sich vorstellen, im kommenden Sommer noch mal einen Anlauf zu nehmen?
Kann ich mir vorstellen, aber da muss alles passen. Es hat bei der Tour eben auch schon neun Mal davor nicht gepasst. Das Bergtrikot wollte ich schon immer mal probieren, 2022 war die Tür so ein bisschen offen. Aber die Form muss natürlich stimmen, man muss in der richtigen Gruppe zur richtigen Zeit sein. Es muss echt viel zusammenlaufen.

Sie gehören zu der Generation um Marcel Kittel, Tony Martin, André Greipel und John Degenkolb, deren Begeisterung auch geweckt wurde, als Jan Ullrich seine größte Zeit hatte. Sie alle haben besonders in den späten 2000er Jahren viel Ablehnung erfahren, den Radsport aber wieder auf die Bildfläche gebracht. Wie blicken Sie heute auf Ihren Sport in Deutschland?
Richtig, ohne Ullrich wäre ich wahrscheinlich nicht Profi geworden. Das Ansehen war später schlecht, als ich Profi wurde, war die schlimmste Zeit. Das hat viel Nerven gekostet, wenn man im eigenen Land pauschal fast als Schwerverbrecher galt, nur weil man einen gewissen Sport gemacht hat und vorverurteilt wurde. Jetzt ist es echt wieder gut, aber wir haben ein großes Nachwuchsproblem. Das, was die Generation Ullrich ausgemacht hat, dass Nachwuchs kam, da passiert gerade das Gegenteil. Das wird ein großes Problem werden, es wird über die Jahre immer weniger. Ich bin gespannt, wie viele Deutsche in zehn Jahren noch bei der Tour de France fahren werden.

Könnte das Kümmern um den Nachwuchs, die Entwicklungsarbeit dort ein Betätigungsfeld für Sie nach der Karriere sein?
Das kann ich mir auf jeden Fall vorstellen, ist halt die Frage in welcher Funktion und an welcher Stelle, damit sich etwas verändert. Für den Nachwuchs würde ich gerne etwas machen, aber das ist sicher nicht so einfach. Es fehlt im Moment an Rennen in Deutschland und damit an Möglichkeiten für junge Sportler - und an jungen Sportlern selbst.