AZ-Interview
Verena Bentele: "Mich berührt die große Energie der Menschen"
29. März 2020, 19:17 Uhr aktualisiert am 29. März 2020, 19:17 Uhr
Die blinde Paralympics-Abosiegerin Verena Bentele spricht im AZ-Interview über Social Distancing, zunehmendes Doping im Behindertensport und wie die Corona-Krise die Gesellschaft verändern wird.
Die 38-Jährige, die von Geburt an blind ist, gewann bei Paralympischen Spielen insgesamt zwölf Goldmedaillen. Sie ist Präsidentin des Sozialverbands VdK.
AZ: Hallo, Frau Bentele, erreichen wir Sie, die zwölfmalige Paralympics-Siegerin und jetzige Präsidenten des VdK im Home Office?
VERENA BENTELE: Nein, ich sitze in meinem Büro in der Schellingstraße. Manches kann ich von zuhause machen, aber wenn ich Termine habe, muss ich vor Ort sein. Allerdings bleibe ich immer auf Distanz zu Kollegen und Mitarbeitern.
Wie meistern Sie, die von Geburt an blind sind, in Zeiten von Corona die Alltags-Herausforderungen? Gelingt es Ihnen, den Mindestabstand von zwei Metern einzuhalten, etwa in der U-Bahn?
Ich fahre nicht mehr so oft öffentlich, gehe jetzt immer zu Fuß von meiner Wohnung in die Arbeit und zurück. Mit Navi am Handy, das klappt gut. Ansonsten ist es schon eine Umstellung. Beim Einkaufen im Supermarkt, da habe ich von Mitarbeitern Hilfe erhalten, bei denen ich mich auch am Arm orientiert habe, wenn es eng wurde. Geht nicht mehr, jetzt lasse ich mir von Freunden wichtige Dinge mitbringen. Auch joggen ist schwierig.
Sie laufen da sonst auch immer zu zweit mit Begleitung?
Ja, verbunden mit einem Band, aber das ist nur 30 Zentimeter lang, da wären wir dichter als der empfohlene Abstand. Was ginge, wäre wie früher Biathlon, als mein Begleitläufer zwei, drei Meter vor mir lief und mir Richtungskommandos zurief. Vielleicht sollten wir das ausprobieren, beim Joggen im Englischen Garten.
Als Biathletin haben Sie vor zehn Jahren, im März 2010 in Vancouver Ihre letzten fünf von zwölf paralympischen Goldmedaillen gewonnen. Nun haben das IOC und Gastgeber Japan die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele verschoben. Eine richtige Entscheidung?
Absolut, es gab keine andere Möglichkeit. Selbst wenn niemand derzeit mit Gewissheit sagen kann, wie sich die Pandemie weiterentwickelt, ob und wie die Infektionszahlen bis zum Sommer weitersteigen. Die Termine für die Olympischen und Paralympischen Spiele waren nicht einzuhalten. Man musste einen Zeitpunkt finden, der den Sportlern, den Zuschauern und dem Gastgeber beste Bedingungen bietet. Das war im Sommer nicht gegeben. Das hätte keinen Sinn gemacht. Man sieht doch schon jetzt, dass kein richtiges Training mehr möglich ist. Das betrifft die olympischen Athleten genauso wie die Para-Sportler.
Eine weitere Folge im Zuge von Corona sind derzeit die in vielen Ländern ausgesetzten Dopingkontrollen. Auch hier kritisierten viele Sportler, dass faire Bedingungen nicht mehr gegeben gewesen wären.
Mit Recht. Auch im paralympischen Sport hat die Dopingproblematik in den vergangenen Jahren zugenommen. Daher sind auch hier systematische Kontrollen für einen fairen Wettbewerb wichtig. Unabhängig von den derzeitig eingeschränkten Kontrollen ist das Thema Technikdoping im paralympischen Sport spannend. Was ist mit den Prothesen, wie sie Sprinter und Springer benutzen? Ist das zulässige Unterstützung oder verschafft man sich mit Hightech unerlaubte Vorteile? Auch hier muss der Weltverband Klarheit schaffen, genau wie bei der großen Zahl an Medaillengewinnern. Im Wintersport ist es gängige Praxis, dass nur in drei Klassen unterteilt wird. Sehbehindert, körperbehindert, Rollstuhlfahrer. Das reicht. Im Sommersport ist die Vielzahl an Startklassen nicht mehr vermittelbar.
Der Weltverband IPC fiel unter Präsident Andrew Parsons vor allem durch seinen Kuschelkurs mit dem IOC um Thomas Bach auf, etwa wenn es in der Causa Staatsdoping um den Start russischer Sportler ging. Würden Sie sich da künftig mehr Abgrenzung wünschen?
Positionierung und Abgrenzung wäre gut, aber das IPC hängt allein schon mit der Austragung der Spiele zu sehr am IOC. Viele Dinge müssen gemeinsam entschieden werden. Viel wichtiger ist mir, dass beide Verbände ihre Haltung überdenken, wie sie wahrgenommen werden, dass sie wieder mehr Glaubwürdigkeit vermitteln, um die Jugend der Welt wieder zu inspirieren. Allein wenn man an die Klima-Demos denkt, an die Millionen Jugendlicher, die weltweit auf die Straße gingen, weil sie sich um die Zukunft der Welt sorgen. Das wäre ein Anlass für die Verbände, Spiele nur noch da hinzuvergeben, wo nicht das meiste Geld winkt, sondern wo es um Klimaneutralität und Nachhaltigkeit geht.
Ist es ein realistischer Glaube, dass das IOC durch die Corona-Krise zur Besinnung auf die wahren Werte bewegt wird?
Es ist ein Wunsch, eine Hoffnung, dass man nachdenklicher wird. Dass es um mehr Nachhaltigkeit und um Inklusion geht, auch um die psychologische Wirkung, was der Sport alles leisten kann, wenn man nach einer Krise, einer Krankheit, einem Unfall ganz unten war und sich nach oben kämpft. Dass es darum geht, den Sport wieder in den Mittelpunkt zu rücken und nicht wirtschaftliche Interessen. Da haben das IOC und das IPC großen Nachholbedarf.
Abgesehen vom Sport, eine Frage an Sie als VdK-Präsidentin: Was kann die Gesellschaft aus dieser Krise lernen?
Ich höre so viele Beispiele von Mitmenschlichkeit. Von Mitgliedern, die nicht aus dem Haus können und von der Studenten-WG in der Wohnung drunter gefragt werden, was sie für sie einkaufen können. Ich hoffe, dass so ein Miteinander nach der Krise anhält, dass Menschen nicht mehr vereinsamen, dass wir uns besinnen, Kräfte für einen großen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu mobilisieren. Mich berührt die große kreative Energie vieler Menschen, vom Miteinander-Singen auf dem Balkon bis zu gemeinsamem Meditieren. Es entstehen neue Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Menschen. So schwer die Zeiten sind, das macht großen Mut für die Zukunft.