"Fluchschanze"

Wer in Oberstdorf siegt, verliert oft alles


Karl Geiger springt im Probedurchgang von der Schanze in Oberstdorf.

Karl Geiger springt im Probedurchgang von der Schanze in Oberstdorf.

Von sid

Karl Geiger? Gewann 2020 in Oberstdorf und griff vergeblich nach dem Goldadler. Martin Schmitt? Siegte dreimal nacheinander im Allgäu und gewann nie die Vierschanzentournee. Christof Duffner? Triumphierte am Schattenberg und dann nie wieder. Jens Weißflog? Holte seinen letzten Tourneesieg vor allem deshalb, weil der unschlagbar scheinende Mika Laitinen einen Tag nach dem Auftaktsieg schwer stürzte.

Die Skisprung-Geschichte zeigt: Wer nach dem Tourneestart vorne liegt, muss sich ernsthaft Sorgen machen. Erstaunlich oft brach der Dominator der ersten von vier Schanzen teils dramatisch ein - und erholte sich teilweise niemals davon.

"Vom Mentalen her ist Oberstdorf immer wichtig", sagte Sven Hannawald einst im SID-Gespräch: "Du weißt, wenn du nicht in den zweiten Durchgang kommst, vielleicht stürzt, fehlen dir am Ende wichtige Punkte." Hannawald gewann 2001/02 in Oberstdorf, danach auch auf den drei anderen Bakken und sicherte sich so seinen historischen Tournee-Grand-Slam.

Aus deutscher Sicht war er die Ausnahme, für die DSV-Adler ist Oberstdorf gewissermaßen eine Fluchschanze. Zehn deutsche Siege gab es dort seit 1991, zuletzt eben durch Geiger, davor durch Severin Freund 2015, nur Hannawald holte dann auch den Tourneesieg. Das liegt deutlich unter der schon mickrigen Gesamtquote: Nur zwölf der jüngsten 30 Auftaktsieger jubelten auch nach Bischofshofen.

Es ist wohl auch der Druck, der für einen deutschen Springer in und nach Oberstdorf oft übermächtig wird. "Natürlich fehlt mir der Tournee-Sieg in meiner Sammlung", hatte Schmitt vor dem Auftakt 2000 gesagt: "Aber wenn ich jetzt sage, ich will gewinnen, dann fehlt mir die Lockerheit." Schmitt gewann zwar wie 1998 und 1999 in Oberstdorf, erlebte dann aber nach Platz elf im Vorjahr erneut ein Garmisch-Debakel - dem Tournee-Sieg lief er bis zum Karriereende 2014 vergeblich nach.

Duffner überrascht in Oberstdorf und gewinnt danach nie wieder

Schmitts Schwarzwälder "Landsmann" Duffner hatte sich zuvor zwar in unnachahmlicher Mundart als Motto "Muesch cool bliiiebe" zugelegt. Nach seinem Überraschungserfolg 1992 in Oberstdorf war es aber mit der Coolness dahin: Mit Platz 32 in Garmisch starb der Tourneetraum, es blieb bei diesem einzigen Weltcup-Sieg.

Andere erwischte es da schlimmer. Österreichs einstiges Toptalent Reinhard Schwarzenberger beispielsweise. 1994 siegte er in Oberstdorf in seinem allerersten Weltcup-Springen - zu viel für den 17-Jährigen: 24., 21., 19. wurde er auf den nächsten drei Stationen, 16. im Gesamtklassement - selten fiel ein Auftaktsieger tiefer.

Laitinen gewinnt und bricht sich im Anschluss sieben Rippen und das Schlüsselbein

Wohl aber schmerzhafter: Der Finne Laitinen kam 1995 aus dem Nichts, gewann zwischen dem 3. und 30. Dezember fünf Weltcups. Es waren die einzigen seiner Karriere, der in Oberstdorf blieb der letzte - an Silvester brach er sich in der Probe von Garmisch sieben Rippen und das Schlüsselbein. Laitinens Tournee war beendet, der Weg frei für den bis dahin klar unterlegenen Weißflog.

Der Sachse reagierte kühl. "Ich bedauerte seinen Sturz, doch ich bedauerte nicht, dass mir sein Ausscheiden den Weg zum vierten Tournee-Erfolg etwas erleichterte", schrieb Weißflog in seiner Autobiografie: "Das sind die Regeln des Sports. Wenn jemand Pech hat, hat ein anderer Glück."