Strukturwandel

Die Vergessenen


Der Hochfels legt sich wie der Rücken eines Drachens über die kleine Gemeinde Stadlern in der nördlichen Oberpfalz.

Der Hochfels legt sich wie der Rücken eines Drachens über die kleine Gemeinde Stadlern in der nördlichen Oberpfalz.

Kein Arzt, kein Bäcker, kein öffentlicher Nahverkehr: Im oberpfälzischen Stadlern an der Grenze zu Tschechien gibt es fast nichts mehr – außer Erinnerungen an bessere Tage

Die gleißende Sonne scheint auf rostig-rote Dächer. Das Handynetz wechselt vom deutschen zum tschechischen, zu keinem. Grabesstille umgibt den Hochfels, der sich wie der zackige Rücken eines Drachens über Stadlern legt. Als hätte das zu Stein gewordene Ungeheuer den Ort an der tschechischen Grenze einst fauchend niedergebrannt. Die Schönheit der märchenhaften Landschaft am Fuß der Burgruine Reichenstein täuscht nicht darüber hinweg, wie düster es für die Bewohner aussieht. Wer nach einem Beispiel für das Dorfsterben in Ostbayern sucht, muss nur nach Stadlern fahren.

Eine Gruppe hat sich vor dem Friedhof versammelt. Einer, Mitte 60, mit grüner Plastikgießkanne in der Hand, erinnert sich, dass es hier mal Metzger, Banken, Post, Polizei, Schulen, Bäcker, Ärzte, Geschäfte, Gast- und Wirtshäuser gab. Davon ist nichts mehr übrig. Auch der Tourismus leidet darunter. „Wir hatten mal eine Berlinerin hier, die mit dem Fahrrad durch Stadlern gefahren ist und ein Wirtshaus gesucht hat“, erzählt eine Frau, Mitte 50, blondierte Haare. „Die haben wir dann selbst bewirtet.“

Auch das Skizentrum Reichenstein, eines der größten in der Region, sei vor knapp zehn Jahren insolvent gegangen, erzählt einer, Mitte 30, im knallroten Shirt. „Touristen kommen nicht mehr.“ Der mit der grünen Plastikgießkanne zeigt auf ein verlottertes Gebäude. „Da vorne stand ein Wirtshaus. Aber das rentiert sich nicht mehr. Es gibt keinen Nachwuchs.“ Der im knallroten Shirt zuckt mit den Achseln. „Wir müssen oft weit fahren, um im Biergarten zu sitzen oder einzukaufen.“

In Stadlern im Landkreis Schwandorf sind die meisten über 60 und älter. Glaubt man Statistiken, altert der Ort weiter. Für diejenigen, die nicht mehr Auto fahren können, gibt es wenigstens noch „Karolas Dorfladen“.

Es klingelt dumpf, wenn man den Tante-Emma-Laden betritt. Karola Schiener kommt aus einer Hintertür. Die 38-Jährige arbeitet seit 14 Jahren hier. Immer schon war das Geschäft in Familienhand. „Aber es ist schwierig“, sagt sie. Schiener hat schon oft daran gedacht, zu schließen. In den Regalen stapeln sich Kaffee, Kekse, Schokolade. Weiter hinten stehen Getränkekisten. Hinter der Kasse liegen neben Wurst, Obst und Brot Zeitungen aus. Das Nötigste. „Aber nicht alles geht weg“, auch wenn von den rund 500 Stadlern 30 bis 40 pro Tag im Laden einkaufen, sagt Schiener. Einigen, die nicht mehr laufen können, hat sie Lebensmittel vorbeigebracht. Man kennt und hilft sich hier. Eine ältere Frau betritt den Laden. Neulich haben sie sie mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus, 20 Kilometer weiter nach Oberviechtach, gebracht. „Da gibt es aber nur die Grundversorgung.“ Ärzte siedeln sich hier nicht an. „Für Spezielleres müssen wir noch weiter“, sagt Schiener.

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Im alten Polizeihaus ist ein Archiv über das frühere Stadlern.

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Hans Vogl zeigt Bilder, die er mit einigen anderen zusammengestellt hat.

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Leer stehende, verfallene Häuser sind in Stadlern keine Seltenheit.

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Karola Schiener in ihrem Tante-Emma-Laden.

Leere Häuser, zerbrochene Fenster, dunkle Räume

Sie lebt mit ihrem Mann, der einen Computerladen hat, und ihren beiden Söhnen neben dem Laden. Weil es hier keine Schule gibt, müssen ihre Jungs in die Nachbargemeinde Schönsee fahren. Der Bus fährt aber an drei Tagen in der Woche. Jeweils um 8 und um 10 Uhr. Deshalb wurde ein Taxi-Service eingerichtet, für den sich die Stadlerner und der ehrenamtliche Bürgermeister der Gemeinde, Gerald Reiter, 50, eingesetzt haben. „Eine Verbesserung im öffentlichen Nahverkehr ist trotzdem dringend notwendig“, sagt Reiter. Der Kommune seien aber die Hände gebunden. „Die Regierung müsste mehr Anreize für den ländlichen Raum geben“, fordert er. Schließlich sei Stadlern ein schöner Ort, mit grenzüberschreitenden EU-Projekten und lebendiger Vereinskultur – es gibt rund zehn aktive Vereine, auch für Jugendliche. „Aber wenigstens ein Wirtshaus, ein Bäcker, ja, ein bisschen Vergangenheit wäre schön.“

Die Zukunft sieht alles andere als rosig aus – nur das Internet ist nicht so langsam wie andernorts. Die Vergangenheit hat in Stadlern Spuren hinterlassen. Die Fassaden aus belebten Tagen bröckeln. Ein Mann, Mitte 60, läuft einen Hang hinab und sagt: „Das Dorf ist tot.“ Wäre hier nicht der Arbeitgeber MMM, der Krankenhäuser mit Desinfektionsgeräten beliefert, wären wohl noch mehr Menschen weg. Dutzende Häuser stehen leer, sind marode, verfallen. Zerbrochene Fensterscheiben lassen in dunkle, zugewachsene Räume blicken. Dazwischen nur einige Quadratmeter Hoffnung. Hübsch renovierte Häuser, Baustellen und Handwerker. Der Banker Franz Dietl, Mitte 30, saniert sein Haus. Ein Lastwagen fährt in die Einfahrt und lädt Holz ab. „Es ist sehr günstig, hier zu wohnen. Und zur Arbeit kann ich pendeln“, erzählt er. „In meinem Bekanntenkreis gibt es viele Jüngere, die zurückkommen, um hier sesshaft zu werden.“

Ein nostalgischer Speicher, der Erinnerungen wach hält

Doch das sind Ausnahmen. Statistiker prophezeien der kleinsten Gemeinde Ostbayerns, dass sie 2028 rund zwölf Prozent der 18- bis 65-jährigen Einwohner verliert. Was die Menschen noch hier hält: gegenseitige Unterstützung und Traditionen. Den Gottesdienst am Kalvarienberg etwa besuchen jedes Jahr im August Tausende Wallfahrer zum Fest Mariä Himmelfahrt.

Im Alltag kommen Gottesdienste zu kurz, sagt Erwin Vogl, der vor der Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt wohnt. „Der Pfarrer ist für mehrere Gemeinden zuständig. Deshalb gibt es hier nur einmal im Monat einen Gottesdienst.“ Vogl hat das Haus gegenüber der senfgelben Kirche in den 1970er-Jahren gekauft. Früher war das die erste Klöppelschule Bayerns.

Von dieser Handwerkskunst erzählen Fotos und Relikte, die Erwin Vogls Bruder Hans im Archiv der Gemeinde, dem ehemaligen Polizeihaus, aufbewahrt. Über die knarzige Treppe geht es hinauf zum nostalgischen Speicher. An den Wänden: Schilder von Gasthäusern und Bäckereien, die es nicht mehr gibt. Regale voll mit alten Krügen, Instrumenten, Trachten. „Das war die Post und das die Schule. Die ist heute Proberaum der Blaskapelle und Vereinshaus der Löwen-Fans“, Vogl zeigt verblichene Bilder. Erinnerungen an ein besseres Stadlern.

Nicht an eines, in dem man Lebensmittel hamstert, keinen Arzt findet, zwischen kaputten Häusern geht und von der Welt vergessen ist. Nein, an eines, in dem man Post aufgibt, sich im Matheunterricht langweilt oder ein kühles Bier im Wirtshaus genießt. Für viele selbstverständlich. Doch in Stadlern ist die Blüte jener Zeit verwelkt. Schwarz-weiße Vergangenheit.

Die Serie

Wie der Titel bereits andeutet, wollen wir uns mit Problemen, aber vor allem mit Möglichkeiten im ländlichen Raum beschäftigen.

Unser Ansatz war es demnach nicht nur – wie schon oft geschehen – zu zeigen, wie düster es in ländlichen Regionen Ostbayerns aussieht, Mitleid zu evozieren oder aus der Sicht privilegierter Stadtbeobachter zu schreiben.

Nein, unser Ansatz ist es, vorzudringen zu den Menschen. Wir wollen mit der neuen Serie Klischees und Vorurteile hinterfragen. Kurzum: Wir verfolgen einen konstruktiven Ansatz.

Dem liegen freilich die Probleme in benachteiligten Regionen zugrunde. Deshalb starten wir mit einem Ort in der Oberpfalz, der mit Abwanderung und mangelnder Grundversorgung kämpft, in dem es den Bewohnern an allem fehlt, was im Alltag vieler selbstverständlich erscheint.

Doch das wollen wir nicht auf uns sitzen lassen und so haben wir uns gefragt: Was kann geändert werden und was ist sogar besser als in überfüllten, teuren Metropolen?

So stellen wir dem das Beispiel einer Gemeinschaft gegenüber, die ihr Dorf aus eigener Kraft schöner gemacht hat. Wir erzählen von Menschen, die nach Erfahrungen in der Stadt zurückgekehrt sind und sich hier beruflich etabliert haben.

Wir geben einen grafischen Überblick mit Fakten zum Leben auf dem Land. Wir beleuchten eines der umstrittensten Themen der Zeit, den Flächenverbrauch in der Region, von verschiedenen Seiten. Darüber hinaus haben wir uns mit Regionalmanagern, Politikwissenschaftlern und Zukunftsforschern unterhalten, die Optimierungsvorschläge und Hintergründe liefern.

Keineswegs erheben wir mit der Serie Anspruch auf Vollständigkeit. Immer wieder gibt es Themen, die uns auch in der täglichen Berichterstattung begleiten. Zudem gibt es weitere Projekte, die mit einem konstruktiven Ansatz dem Dorfsterben entgegenwirken.

Wir haben uns schließlich auf einige exemplarische Themen beschränkt und hoffen, dass diese Ihnen einen guten Überblick über Probleme, aber vor allem Möglichkeiten geben. Irgendwo zwischen Landfrust und Landlust.