VGH stärkt Sanitäter
Nach Strafe für Behandlung: Landshuter Sanitäter schreibt Rechtsgeschichte
8. Mai 2021, 6:00 Uhr aktualisiert am 21. Dezember 2021, 18:20 Uhr
In einem Beschluss hat der VGH die Selbstherrlichkeit eines Ärztlichen Leiters angeprangert und die Rolle von Notfallsanitätern gestärkt. Ins Rollen gebracht hat das Ganze ein Landshuter Sanitäter.
Am Donnerstagabend vor einer Woche saß Andreas Drobeck auf seiner Couch und schaute fern. Vielleicht machte er sich auch Gedanken, wie es mit ihm weitergehen wird, ob er auch in Zukunft als Notfallsanitäter arbeiten und in seiner Heimatstadt Landshut bleiben kann. Er hatte harte Wochen hinter sich. Plötzlich klingelte das Telefon. Sein Anwalt war dran. "Guten Abend, Herr Drobeck. Es ist jetzt so: Wir haben gewonnen und vollumfänglich Recht bekommen", sagte Professor Ernst Fricke.
"Es war eine Riesenlast, die da von mir abgefallen ist", sagt Drobeck. Die Last, von der der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) den 36-jährigen Notfallsanitäter der Johanniter mit seiner Entscheidung befreite, senkte sich im vergangenen Jahr auf Drobeck.
Am Nachmittag des 13. August 2020 wurden er und ein Johanniter-Kollege zu einem Notfalleinsatz am Landshuter Hauptbahnhof gerufen. Ein Mann hockte dort auf dem Boden, vollkommen erschöpft. Drobeck und sein Kollege stellten fest, dass der Patient, der nur Polnisch sprach, derart dehydriert war, dass er bereits stehende Hautfalten hatte. Um "wesentliche Folgeschäden" (wie es der VGH später formulieren sollte) auszuschließen, verabreichten sie zunächst Mineralwasser, legten dann einen Zugang und versorgten den Mann mit zwei Infusionen für den Flüssigkeitshaushalt. Daraufhin erholte er sich. Einen angebotenen Transport ins Krankenhaus lehnte der Patient trotz Belehrung ab. Um 17.20 Uhr endete Drobecks Einsatz.
Im Verlauf des Abends klagte der Mann über starke Bauchschmerzen. Erneut kam ein Rettungswagen. Diesmal stimmte der Patient einer Einlieferung ins Krankenhaus zu. Laut den Sanitätern des zweiten Einsatzes sei keine Dokumentation des Zugangs und der Infusionen hinterlassen worden. "Ja, der Kollege hat den Zugang nicht korrekt dokumentiert", sagt Drobeck. Dies sei aber auch schon alles gewesen, was man sich hätte zuschulden kommen lassen. "Bei dem Zugang, den wir dem dehydrierten Patienten gelegt haben, handelte es sich um eine sogenannte erlaubte und beherrschte Maßnahme."
Drobeck Disziplinierung war bayernweites Novum
Für den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst des Rettungsdienstbereichs Landshut haben Drobeck und sein Kollege rechtswidrig gehandelt. Sie hätten einen Notarzt alarmieren müssen.
Im Dezember wurde eine Besprechung bei der Regierung von Niederbayern anberaumt. Neben Andreas Drobeck, seinem Kollegen und dem Ärztlichen Leiter nahmen daran auch der Ärztliche Bezirksbeauftragte Rettungsdienst Niederbayern und die Geschäftsführerin des Landshuter Rettungszweckverbands teil. "Es war ein Tribunal", sagt Drobeck.
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"Nachdem der Ärztliche Leiter in einer Power-Point-Präsentation die Rechtswidrigkeit unseres Handelns vorführte", erinnert sich Drobeck, "habe ich gleich versucht, zugegeben emotional, Gegenargumente vorzubringen. Ich konnte es mir auf keinen Fall gefallen lassen, mich in meiner Notfallsanitäter-Ausübung derart einschränken zu lassen." Daraufhin sei ihm unverschämtes Verhalten vorgeworfen worden.
Die Konsequenz des Gesprächs war, dass Drobeck und sein Kollege ihre 2c-Delegationsurkunden abgeben mussten. Diese Urkunde erlaubt dem Sanitäter laut Notfallsanitätergesetz eigenständiges Durchführen von heilkundlichen Maßnahmen. Diese müssen wiederum vom Ärztlichen Leiter Rettungsdienst oder entsprechend verantwortlichen Ärzten bei bestimmten notfallmedizinischen Zustandsbildern und -situationen standardmäßig vorgegeben, überprüft und verantwortet werden. Ein Entzug der Delegationsurkunde war in Bayern bislang noch nie vorgekommen.
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Der Ärztliche Leiter, der Ärztliche Bezirksbeauftragte und die Geschäftsführerin des Rettungszweckverbands rieten Drobeck und seinem Kollegen, die Rüge hinzunehmen, dann könnten sie die 2c-Urkunde nach einer Nachschulung wieder erhalten. Außerdem werde der Fall dann nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben.
"Ich habe mich gedemütigt gefühlt", sagt Drobeck. "Und mir war klar: Dagegen muss ich klagen." Dabei sei es ihm weniger um die eigene Person gegangen. "Meine Intention war es vor allem, das System zu verbessern und den Beruf zu professionalisieren."
Drobecks Fall übernahm der Landshuter Rechtsanwalt Ernst Fricke. Zunächst deshalb, "weil mein Mandant für etwas ‚bestraft' wurde, was sein Kollege eigenverantwortlich gemacht hatte. Das war ein Fall von Sippenhaft", so Fricke. "Nach Sichtung der Unterlagen habe ich dann erkannt: Die Sache ist rechtlich insgesamt nicht in Ordnung. Es hat mich wirklich beeindruckt, mit welchem Durchhaltevermögen und Berufsethos Herr Drobeck um seine Rehabilitierung gekämpft hat."
Auf eine massive Probe wurde Drobecks Durchhaltevermögen durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Regensburg vom 22. Februar gestellt. Seine Beschwerde gegen den Rettungszweckverband wurde zurückgewiesen. "Ich habe mich erst gefragt, ob ich meinen Beruf noch weiter ausüben und in meiner Heimatstadt Landshut bleiben kann. Prof. Fricke hat mich dann aber sofort beruhigt und mir nahegelegt, Beschwerde gegen das Urteil einzulegen."
Das Urteil der ersten Instanz sei "ohne Rücksicht auf den Sachvortrag meines Mandanten" erfolgt sowie "ohne die von uns vorgelegten Urkunden und Beweisangebote zu berücksichtigen", sagt Fricke.
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"Mein Rettungsdienstleiter hat bei dem Gespräch in der Regierung schon zu mir gehalten", sagt Drobeck. "Erst nachdem bekannt wurde, dass ich dagegen vorgehe, hat sich keiner mehr klar zu mir positioniert." Die Wochen nach dem VG-Urteil bis zur Entscheidung des VGH: eine Tortur. "Neben Getuschel und Häme im gesamten Rettungsdienstbereich Landshut gab es auch heftige Angriffe gegen mich im Internet." So postete eine Anwältin und Geschäftsführerin eines BRK-Kreisverbands das Urteil des VG Regensburg auf Youtube und stellte Drobeck dabei bloß. "Die Kommentare dazu waren teils unsäglich. Ich habe mich wie ein gejagtes Tier gefühlt."
Am 29. April ging bei Ernst Fricke die Entscheidung des VGH ein. Das Urteil des VG Regensburg sei aufgehoben, die Beschwerde Drobecks in der Sache begründet.
Die Richter nahmen die Argumente und Maßnahmen des Ärztlichen Leiters sowie deren Würdigung durch das Verwaltungsgericht auseinander. Zudem bemängelte der VGH die "fehlerhafte Besetzung der Vorinstanz". Das VG Regensburg habe den Fall von einer nicht zuständigen Kammer behandeln lassen.
Arzt oder Sanitäter? Im Notfall "irrelevant"
Zum VGH-Urteil sagt Fricke: "Es bedient sich einer ungewöhnlich scharfen Wortwahl, bringt den Fall aber haargenau auf den Punkt. Der Entscheidung wurden zudem zwölf Leitsätze vorangestellt. Das ist mir in 42 Jahren Verwaltungsrecht noch nie passiert."
Die "ungewöhnlich scharfe Wortwahl" liest sich so: Statt dem Ärztlichen Leiter "in den Arm zu fallen" habe das Verwaltungsgericht dessen Disziplinierungsmaßnahme bestätigt, ohne dass es "in der Sache nachvollziehbar" dargelegt worden wäre. Bei der Verabreichung einer Infusion handle es sich um eine Standard-Maßnahme. Das einzige Fehlverhalten sei die fehlende Dokumentation gewesen. Diese wiederum liege allein in der Verantwortung des Notfallsanitäters, der den Einsatz leitet - Drobeck jedoch war als Fahrer eingeteilt und könne daher in dieser Sache nicht zur Verantwortung gezogen werden. Abgesehen davon würde eine fehlende Dokumentation den Widerruf der 2c-Delegation nicht rechtfertigen.
Der zuständige Ärztliche Leiter, so der VGH, habe "in Unkenntnis der Einsatzvoraussetzungen" gehandelt. Dieser Irrtum sei von der juristischen Staatsbeamtin des Zweckverbands "im Vertrauen auf die ärztliche Kompetenz des Rettungsdienstleiters" übernommen worden. Die Maßnahmen des Ärztlichen Leiter seien unverhältnismäßig. Damit sei die Frage nach der Kompetenz des Ärztlichen Leiters des Rettungsdienstes zur Führung eines größeren Personalkörpers aufgeworfen, so der VGH.
Als "geradezu verstörend" bezeichnen es die Richter, dass sich der Ärztliche Leiter "eine Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft" vorbehalten habe. "Will der Ärztliche Leiter die helfenden Hände der beiden Notfallsanitäter tatsächlich wegen verbotener Ausübung der Heilkunde zur Anzeige bringen?"
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Für "Selbstherrlichkeit und Standesdünkel" sei im Rettungsdienst kein Raum, heißt es zum Ende der Entscheidung des VGH. Im Zuge eines Notfalleinsatzes sei es "vollkommen irrelevant" ob eine medizinisch indizierte Maßnahme von einem Arzt oder einem Notfallsanitäter durchgeführt werde. Die Entscheidung des Gesetzgebers sei hier eindeutig: Notfallsanitäter seien "eigenverantwortlich handelnder, heilkundlicher Teil der Rettungskette".
Es sei nun Sache des Rettungszweckverbands Landshut (zu dem neben Stadt und Landkreis Landshut auch die Landkreise Dingolfing-Landau und Kelheim gehören), über die weitere Zukunft des Ärztlichen Leiters zu entscheiden.
Rettungszweckverband steht zu Ärztlichem Leiter
Der Rettungszweckverband hat sich voll hinter seinen Ärztlichen Leiter gestellt. Auch wenn vom VGH in seinem Beschluss angeregt, sehe man "keinerlei Veranlassung dazu, die Besetzung infrage zu stellen", teilt eine Sprecherin des Verbands auf Anfrage unserer Redaktion mit.
Als erfahrener und engagierter Notfall- und Intensivmediziner erfülle der Ärztliche Leiter das angeforderte Profil für diese Funktion hervorragend, auch seine bisherigen Leistungen ließen keinen Zweifel an seiner Kompetenz aufkommen, so die Sprecherin. "Ein Beweis unseres Vertrauens ist auch seine Ernennung als Ärztlicher Leiter Krankenhauskoordination im Zuge der Corona-Pandemie."
Die 2c-Delegationsurkunde sei Drobeck zwar vorübergehend entzogen worden, allerdings sei den Betroffenen "stets die Möglichkeit eröffnet worden, nach Erfüllung der gegebenen Vorgaben (Nachschulung) innerhalb eines überschaubaren Zeitraums diese Handlungsberechtigung wiederzuerlangen, wenn das notwendige Vertrauen wiederhergestellt ist". Diese Schritte seien eng mit allen übergeordneten Behörden bis hin zum bayerischen Innenministerium abgestimmt gewesen. "Uns ist zusätzlich von mehreren medizinischen Fachstellen bestätigt worden, dass die Beurteilung des angesprochenen Falls absolut richtig war."
Der VGH habe im Eilverfahren über die eigenverantwortliche Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten durch Notfallsanitäter zugunsten des Antragstellers entschieden. Der Rettungszweckverband beabsichtige jedoch, am ergebnisoffenen Hauptsacheverfahren festzuhalten, das weiterhin anhängig sei.
Der Zweckverband übernahm auch die Beantwortung der Fragen, die unsere Redaktion an den Ärztlichen Leiter selbst geschickt hatte.
Anwalt: Rechtsgeschichte geschrieben
Andreas Drobeck sieht in der unanfechtbaren Entscheidung des VGH unterdessen eine höchstrichterliche Bestätigung seiner Berufsauffassung: "Es war und ist mein Bestreben, den Beruf zu professionalisieren. Dazu gehört auch, die Ressource Notarzt für die Fälle vorzuhalten, in denen er auch wirklich dringend gebraucht wird."
Für Ernst Fricke hat das Urteil "Bedeutung über den Tag" hinaus, weil dort festgeschrieben wurde, dass Notfallsanitäter eigenverantwortlich handelnder, heilkundlicher Teil der Rettungskette sind. Damit sei endlich Rechtssicherheit im Rettungsdienst erreicht. "Deshalb hat Herr Drobeck Rechtsgeschichte geschrieben", sagt Fricke. "Ich wünsche ihm, dass die VGH-Entscheidung zukünftig als ‚Drobeck-Entscheidung' zitiert wird."
Zum Urteil des VGH
Die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist auf der Website gesetze-bayern.de der bayerischen Staatskanzlei unter den Suchbegriffen "Notfallsanitäter Landshut Johanniter" zu finden und nachzulesen.
Im Video spricht Autor Uli Karg über die Geschichte: