Dorf und Tradition

Wo Bräuche erlebbar sind


Der Kötztinger Pfingstritt ist mit über 600 Jahren Tradition eine der ältesten Brauchtumsveranstaltungen in Bayern. Inzwischen w

Der Kötztinger Pfingstritt ist mit über 600 Jahren Tradition eine der ältesten Brauchtumsveranstaltungen in Bayern. Inzwischen wurde der Brauch ins Bayerische Landesverzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Der Pfingstritt, eine der größten Reiter-Bittzüge Europas, erinnert an ein Gelübde aus dem Jahr 1412. Damals war ein Pfarrer, geleitet von Burschen von Bad Kötzting, in das sieben Kilometer entfernte Dorf Steinbühl geritten, um einem Mann die Sterbesakramente zu spenden. Seitdem ziehen jedes Jahr am Pfingstmontag über 900 Reiter betend auf geschmückten Pferden und in alte Tracht gekleidet durchs Zellertal nach Steinbühl.

Es mag am Land an Versorgungsangeboten und Freizeiteinrichtungen mangeln, dafür machen viele schöne Bräuche das Leben in der Dorfgemeinschaft lebenswerter als in der Stadt, wo diese Traditionen schon längst ausgestorben sind – so möchte man zumindest als Dorfkind stolz meinen.

Maximilian Seefelder, niederbayerischer Bezirksheimatpfleger und leitender Kulturdirektor beim Bezirk Niederbayern, äußert sich im Interview aber differenzierter zu dem Thema.

Herr Seefelder, sind Traditionen im Dorf lebendiger als in der Stadt?

Maximilian Seefelder: Traditionen und Bräuche sind in Dörfern sicher direkter erlebbar. Das liegt an der Struktur und der Überschaubarkeit kleinerer Orte. Ebenso sind Dorfgemeinschaften homogener im Gegensatz zum gesellschaftlichen und ethnischen Schmelztiegel der größeren Städte. Das heißt aber nicht, dass es in der Stadt weniger Traditionen und Bräuche gäbe. Nur sind es dort eben andere. Man denke an Zunft- und Fastnachtsbräuche, die vorwiegend städtischer Herkunft sind, etwa der Augsburger Metzgersprung oder die Rituale der Passauer Lampelbruderschaft. Nicht zu vergessen, die studentischen Rituale in den Universitätsstädten.

Wie wichtig sind Traditionen für das Lebensgefühl und die Lebensqualität in ländlichen Gegenden?

Seefelder: Wichtig. Nicht nur in ländlichen Gegenden. Traditionen bestimmen – bewusst oder unbewusst – das ganze Leben. Wir feiern Weihnachten, Ostern, Pfingsten und andere Feiertage – auch in der Stadt. Wer feiert nicht den eigenen Geburtstag oder irgendwelche Jubiläen und Gedenktage? Menschen heiraten, laden zur Hochzeitfeier ein, welche sich in einem mehr oder weniger festgelegten rituellen Rahmen bewegt. Letzteres trifft ebenso auf Beerdigungsriten zu. Darüber hinaus gibt es Volksfeste, Fahnenweihen, Orts- und Stadtjubiläen und vieles mehr. Religiöse Bräuche wie zum Beispiel Fronleichnamsprozessionen finden in Stadt und Land statt, während der zünftische Schäfflertanz, der ursprünglich aus München stammt, ab dem 19. Jahrhundert auch auf dem Land verbreitet wurde. Letztlich sind Bräuche und Traditionen – egal welche und wo – immer sozialer Kitt, weil sie von Gemeinschaften getragen werden und gemeinschaftliches Handeln darstellen.

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Fahnenweihen gehören zu den größten Festen im ländlichen Raum. Wenn ein Verein eine neue Fahne bekommt, wird diese kirchlich gesegnet und erhält Ehren- und Gedenkbänder. Anschließend wird die neue Fahne in einem Festzug durch den Ort getragen. Der Brauch war schon im 10. Jahrhundert bekannt und stammt aus dem militärischen Bereich.

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Das Wolfauslassen ist ein Brauch, der im Bayerischen Wald verbreitet ist. Rund 600 Burschen und einige Mädchen treffen sich alljährlich, um mit dem dröhnenden Gebimmel riesiger Kuhglocken nach altem Brauch wilde Tiere zu vertreiben. Das Wolfauslassen ist ein Beispiel für einen lokalen Brauch, insgesamt gibt es in den Traditionen in Ostbayern mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede, sagt Maximilian Seefelder.

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Osterbrunnen gab es ursprünglich vor allem in der Fränkischen Schweiz, erst seit etwa 40 Jahren gibt es den Brauch, zu Ostern die Brunnen zu schmücken, auch im Rest Bayerns. Es ist einer der vielen Bräuche, die kirchlichen Ursprung haben.

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Maibäume stehen in so gut wie jedem Dorf. Zum Brauch gehört nicht nur das Aufstellen mit Schwaiberln, sondern zuvor auch das Bewachen vor Maibaumdieben. Belege, dass der Brauch auf die Kelten oder Germanen zurückgeht, gebe es nicht, schreibt Maximilian Seefelder im Blog „Kulturheimat“. Erst ab der Zeit von Ludwig I. (1786 – 1868) entfaltete sich demnach der Maibaum-Brauch zur Blüte.

Welche Rolle spielen Dörfer, wenn es darum geht, kulturhistorisches Gut für kommende Generationen zu bewahren?

Seefelder: Eine geringere als die Städte. Denn Institutionen und Lernorte wie Museen, welche außer dem Heimatkundlichen speziell kulturhistorisches Sachgut und Wissen bewahren und vermitteln, finden sich vor allem in Mittel- und Oberzentren. Kulturhistorie spiegelt sich freilich auch in der dörflichen Baukultur. Allerdings wird diese Art der Kulturgeschichte verkannt, wo erhaltenswerte Baudenkmale als ,altes Glump‘ deklariert und abgerissen werden.

Wenn es nicht um konserviertes Kulturgut in Museen geht, sondern um gelebte Bräuche – gibt es Traditionen, die auf dem Dorf überlebt haben, in der Stadt aber ausgestorben sind?

Seefelder: Die gibt es: Zum Beispiel Flurumgänge, Bittgänge oder Hirtenbräuche. Nur sind sie in der Stadt nicht ausgestorben, sondern es hat sie dort schlicht nie gegeben, weil sie aus dem landwirtschaftlichen Umfeld stammen, wie auch das Wolfauslassen im Bayerischen Wald.

Wie stark unterscheiden sich die verschiedenen Regionen Ostbayerns in ihren Traditionen?

Seefelder: Im ostbayerischen Kulturraum überwiegen bei weitem die Gemeinsamkeiten. Wir sind überwiegend christlich-katholisch und ländlich geprägt. Dies ist die Basis der religiösen und weltlichen Bräuche im Jahres- und Lebenskreis. Sie sind nicht mit den Volksfesten, Jubiläen und Vereinsfesten zu verwechseln, die auf eine eigene lokale Identität abzielen. Doch bei näherer Betrachtung funktionieren auch diese lokalen Traditionen nach ähnlichen Mustern.

Wie viel von dem, was auf dem Dorf als Tradition gelebt wird, ist tatsächlich Tradition? Und wie viel sind moderne Bräuche, Modeerscheinungen und gelebte Klischees?

Seefelder: Bräuche definieren sich nicht allein durch ihre äußere Form, sondern vor allem durch die Menschen, die sie gebrauchen. Auf dem Land hat man zum Erntedankfest einen anderen, direkteren Bezug als in der Stadt. Wenn ein Industriearbeiter oder ein Städter eine historisierende bäuerliche Tracht trägt, steht das in einem anderen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext und hat eine andere Funktion als noch ein paar Generationen zuvor im bäuerlichen Milieu. Und wo Bräuche als touristische Attraktion vermarktet werden, werden auch klischeehafte Erwartungshaltungen bedient.

Können sich Bräuche weiterentwickeln oder sollte man versuchen, die Urform des Brauchs bewahren?

Seefelder: Dem Kulturhistoriker stellen sich die Nackenhaare auf, wenn von vermeintlichen Urformen die Rede ist. Bräuche leben von der zeitlichen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Dynamik. Was sich nicht verändert, wird altmodisch und im Wortsinn unbrauchbar für die Gemeinschaft.

Interview: Andreas Kerscher