Ein Toter im Chamb
Belarussischer Oppositioneller begeht in Oberpfalz Suizid
19. Dezember 2021, 6:00 Uhr aktualisiert am 31. März 2023, 13:19 Uhr
Jeder Suizid ist das Ende einer traurigen Geschichte. Die Geschichte von Dzmitry Liseyenka endet aber nicht mit seinem Suizid; sie setzt sich im Kampf seiner Frau fort. Es ist die Geschichte eines weißrussischen Speznas-Elitekämpfers und Geheimdienstmitarbeiters, der sich gegen das Regime gestellt hat.
Und es ist die Geschichte einer Frau, die dafür kämpft, dass ihr das Leid, das ihren Mann in den Tod getrieben hat, erspart bleibt. Tatsiana Liseyenka ist diese Frau. Ihre Geschichte würde sich als Stoff für einen Agenten-Thriller eignen.
Unsere Recherchen belegen ihre Angaben. So liegen uns beglaubigte Übersetzungen ins Deutsche von hochrangigen belarussischen Oppositionellen, die Liseyenkas Aussagen stützen, vor. Darunter auch ein ehemaliger Geheimdienstoffizier, der in Deutschland lebt und laut Landeskriminalamt Berlin Gefahr läuft, ermordet zu werden. Oder die Würdigung von Liseyenkas Arbeit gegen das Regime durch die Bürgerrechtlerin Olga Karač, einen der Köpfe in der Bewegung gegen Diktator Lukaschenko. Doch dies alles konnte den 36-Jährigen nicht retten.
"Es gab keinen Abschiedsbrief"
Er starb kurz vorm Jahreswechsel in Furth im Wald. Irgendwann zwischen dem 25. und 28. Dezember 2020. Wann genau, das scheint niemand sagen zu können. Denn nachdem seine Leiche im seichten Arm des Chamb, der durch die Grenzstadt im Landkreis Cham fließt, gefunden worden war, hatte die Staatsanwaltschaft an einem Suizid offensichtlich keinen Zweifel und verzichtete auf eine Obduktion. "Es lagen keine Anhaltspunkte für eine Fremdeinwirkung vor", so Oberstaatsanwalt Markus Pfaller in dieser Woche auf Nachfrage unserer Mediengruppe. Für Liseyenkas Frau ist die Sache jedoch nicht ganz so zweifelsfrei.
Am Abend seines Verschwindens habe Dzmitry Liseyenka noch für beide gekocht, sei nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit Luft schnappen gegangen. Drei Tage später fand sie ihn selbst bäuchlings im Bach. Wenige Meter von ihm entfernt eine halb geleerte Flasche Wodka und seine Jacke. "Er trank nie Wodka. Und an seiner Lippe hatte er eine Verletzung ...”, erzählt sie und zuckt mit den Schultern. "Für mich ist mein Mann unter ungeklärten Umständen verstorben."
Zwar habe er aufgrund der langen, brutalen Haft und den ständigen Repressalien unter psychischen Problemen gelitten, doch dass er in Deutschland Suizid begehen sollte, ist ihr unverständlich. "Es gab keinen Abschiedsbrief", versichert sie. War sein Tod eine pure Verzweiflungstat aus Angst vor einer drohenden Abschiebung nach Weißrussland? Ein Unfall nach zu viel Alkohol? Oder steckt mehr dahinter? Dass Tatsiana Liseyenka vieles hinterfragt, ergibt sich aus der Geschichte ihrs Mannes.
Dzmitry Liseyenkas Vater war Oberst des KGB. Er starb auf dubiose Weise. Auch Dzmitry hatte zunächst eine militärische Karriere eingeschlagen. Er gehörte der Spezialeinheit "Speznas" an und arbeitete für den Geheimdienst als Analytiker, bevor er sich zunehmend auf die Seite der Opposition schlug und als Aktivist auftrat.
Dies, sein tiefer Einblick in den Machtapparat und die Rolle seines Vaters führten wohl dazu, dass er weggesperrt wurde. "Sie hatten ihn wegen Drogenbesitz, Waffenhandel, Geldfälschung und Verrat angeklagt. Es war ein absoluter Scheinprozess", sagt seine Ehefrau. 15 Jahre sollte er dafür ins Gefängnis; knapp sieben Jahre saß er ab und erlebte dabei die Hölle.
Entführung durch die Geheimpolizei
"Auch nach seiner Entlassung aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustands standen wir ständig unter Beobachtung und Repressalien", erzählt Tatsiana Liseyenka weiter. Doch er trat weiterhin für die Freiheit in seinem Land ein. Als mehrere Oppositionelle überraschend starben, ihrem Mann am Telefon indirekt mit dem Tod gedroht worden sei, flüchteten sie nach Polen. Dort sei er dann im August 2016 von der weißrussischen Geheimpolizei entführt worden.
Der einstige Elite-Soldat konnte jedoch kurz vor der Grenze fliehen und setzte sich mit seiner Frau nach Deutschland ab, um hier im Dezember 2016 Asyl zu beantragen. Es folgten Monate des Hoffens.
Für Dzmitry Liseyenka wurde diese Ungewissheit zur Tortur, insbesondere als sie die Nachricht erhielten: "Der Asylantrag ist abgelehnt!" Dagegen haben sie Einspruch eingelegt. In den Wochen vor dem Tod sei er immer unruhiger, ängstlicher geworden. "Ich habe ihn oft gefragt, was los sei", erzählt seine Frau, "er meinte nur: Es ist besser, wenn du nicht alles weißt!" Dann starb er überraschend im Dezember 2020.
Nun soll auch seine Frau Deutschland verlassen
Am 17. August hat Tatsiana Liseyenka, die sich in der evangelischen Kirche und bei den Maltesern engagiert, nun erneut die Mitteilung vom Bundesamt für Migration erhalten, dass ihr Asylantrag abgelehnt wird. Sie versucht nun, mit weiteren Rechtsmitteln das Schlimmste zu verhindern. Mit trauriger, zittriger Stimme sagt sie: "Ich habe keinen Zweifel: Wenn ich nach Belarus zurückkehre, droht mir Haft und dann der Tod." Sie kann nicht verstehen, warum in Polen einer weißrussischen Olympia-Sportlerin Asyl gewährt wird, "und ich wie Müll aus Deutschland hinausgeworfen werde".
Aus diesem Grund habe sie sich nun an die Öffentlichkeit gewandt. "Die Leute sollen hören, warum mein Mann starb." Sie sollen nicht glauben, dass es "nur" ein psychisch angeschlagener Asylsuchender war, der im Suff zu Tode gekommen ist. Tatsiana Liseyenka: "In unserer Geschichte steckt so viel. Leider droht ihr nun ein zweites trauriges Ende ..."
Hilfe bei Suizidgedanken
Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Eine Beratung im Internet ist möglich unter
Die Leiden des Dzmitry L.
Was es heißt, knapp sieben Jahre in weißrussischen Gefängnissen zu verbringen, dürften die wenigsten wissen. Dzmitry Liseyenka hat es schmerzlich am eigenen Leib erfahren. Nicht nur, dass verschiedene Aktenauszüge und Zeugenaussagen das belegen; er selbst hat im Rahmen seines Asylverfahrens detailliert beschrieben, wie es beispielsweise in der "Besserungsanstalt Nummer 3" in der Stadt Wizebsk, die im nördlichen Weißrussland liegt, zugeht. Nachfolgend Auszüge seiner Schilderungen vor Gericht:
Liseyenka erzählt von Isolationshaft. So habe er 45 Tage in einer zwei auf zwei Meter großen Zelle ("Steintasche" genannt), in der es kein natürliches Licht gab, verbracht. Er sei verprügelt und vergewaltigt worden. Er berichtet von Schlägen auf die Fußsohlen, von Zigaretten auf seiner Haut.
Doch noch schlimmer sei die psychologische Folter gewesen. Grelles Licht und ohrenbetäubende Geräusche hätten ihn beinahe in den Wahnsinn getrieben. Zudem wurde für Schlafentzug gesorgt. Man habe ihm den Toilettengang verboten und Essen gereicht, das schier ungenießbar war. Diese Tortur hinterließ Spuren. Die Liste, die er im Rahmen seines Asylverfahrens anlegte, reicht von einer gebrochenen Nase über ausgeschlagene Zähne bis hin zu Schäden an der Brust- und Lendenwirbelsäule infolge vieler Schläge.
Hinzu kamen seelische Narben. Liseyenka schreibt von Halluzinationen, Depression, Panik-Attacken und schweren Schlafstörungen. "Meine Persönlichkeit ist in den sieben Jahren der Haft zum Teil zerstört worden", fasste er diese Leidenszeit zusammen. "Das wollte er nie wieder ertragen müssen", ergänzt seine Frau.
Die Witwe zweifelt
"Wir gehen derzeit von einem Suizidgeschehen aus." - Diese Antwort erhielt die Chamer Zeitung am 28. Dezember 2020 auf die Nachfrage bezüglich eines im Chamb aufgefundenen toten Mannes. Acht Monate danach meldet sich nun dessen Frau zu Wort. Sie geht an die Öffentlichkeit, um die Geschichte hinter der Geschichte zu erzählen. Auch, weil ihr nun die Abschiebung droht - das Schicksal, wegen dem sich ihr Mann das Leben genommen hat. "Wenn er sich überhaupt selbst getötet hat."
Denn Tatsiana Liseyenka ist auch acht Monate nach dem Tod von Dzmitry Liseyenka noch nicht davon überzeugt, dass es ein Suizid oder ein Unfall war; sie spricht von "ungeklärten Umständen". Wer die Geschichte ihres Mannes, eines einstigen Elite-Soldaten und Geheimdienstmitarbeiters, der in die weißrussische Opposition gegen Diktator Lukaschenko gewechselt war, kennt, der mag für solche Gedanken Verständnis haben. Ihre Geschichte gleicht einem Thriller; vieles davon wird jedoch durch schriftliche Aussagen und Würdigungen von Wegbegleitern, die durch beglaubigte Übersetzungen vorliegen, bestätigt.
Was geschah zwischen dem 25. und dem 28. Dezember?
Was die letzten Stunden des 36-jährigen belarussischen Aktivisten betrifft, steht nur fest, dass er gegen Abend des 25. Dezember seine Wohnung in Furth im Wald verlassen, später mit seiner Frau noch telefoniert hat und dann verschwand. Erst am 28. Dezember, also drei Tage später, wurde er im Chamb knapp 100 Meter südlich der Leonhardi-Brücke, zwischen Regner-Insel und Festwiese bäuchlings im Wasser tot aufgefunden. Noch heute sind die Fotos der Polizei von seinem Leichnam für seine Frau schwer zu verkraften; dennoch zeigte sie uns die Bilder.
Verschiedene Szenarien und Spekulationen
Hat sich ihr Mann das Leben genommen? War es ein Unfall? Oder steckt doch etwas anderes dahinter? Diese Ungewissheit nagt an Tatsiana Liseyenka, insbesondere, weil ihr nun die Abschiebung nach Weißrussland droht. Was sie dort erwartet? "Nicht nur Haft, sondern der Tod", ist sie überzeugt, da das Lukaschenko-Regime durch die Tätigkeit ihres Mannes auch sie als Verräterin betrachte.
• Was für einen Suizid spricht: Dzmitry Liseyenka hat knapp sieben Jahre in einem weißrussischen Gefängnis verbracht. Er wurde unzählige Male geschlagen, auf engstem Raum isoliert und seelisch gequält. Nach seiner Flucht beschreibt er sich in seiner Vita, die er im Zuge seines Asylverfahrens verfasst hat, selbst als einen seelisch und körperlich gebrochenen Mann. Er befand sich deshalb in Deutschland in psychologischer Behandlung, musste Medikamente nehmen, wie seine Frau auch in der Zeugenvernehmung gegenüber der Kriminalpolizei angab. Zudem habe er sich nach der ersten Ablehnung des Asylgesuchs zunehmend nervös gezeigt. Für ihn schien klar: Er wolle auf keinen Fall zurück in ein weißrussisches Gefängnis. Liseyenka war überzeugt, dass er dort zu Tode gefoltert werde.
• Was für einen Unfall spricht: Am Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages hatten er und seine Frau eine kleine Meinungsverschiedenheit. "Nichts Großes", wie Tatsiana Liseyenka versichert, "er hatte zuvor noch für uns beide gekocht". Er ging daraufhin spazieren. Am frühen Abend habe sie ihn noch am Handy erreicht. "Er hat gesagt, dass er mich liebe und er bald nach Hause käme. Im Hintergrund hörte ich die Glocken. Er musste am Stadtplatz gewesen sein", erzählt sie.
Später habe sie durch eine Abbuchung von ihrem Bankkonto erfahren, dass mit seiner Karte in der Avia-Tankstelle an der Eschlkamer Straße eingekauft wurde. "Eine Videoaufzeichnung davon gibt es leider nicht." Hat er dort die Flasche Wodka gekauft, die drei Tage später nur fünf Meter von seinem Leichnam bei seiner Jacke halb leer entdeckt wurde? Hatte er getrunken und stürzte er dabei versehentlich in den Chamb? Könnte davon eine Wunde am Mund stammen, an die sich Tatsiana Liseyenka erinnert? "Mein Mann hatte nur Bier, nie Wodka getrunken, und nun gleich eine ganze halbe Flasche?", lässt seine Frau zweifeln. Und warum legte er seine Jacke ab? Und ertrinkt ein ehemaliger Elitesoldat einfach so in einem seichten Bach, selbst wenn er betrunken sein sollte?
• Was für ein Fremdeinwirken spricht: Der Name Liseyenka ist in Weißrussland nicht unbekannt. Dzmitrys Vater war KGB-Oberst und sei an einem unnatürlichen Tod gestorben. Auch der 36-Jährige war im Geheimdienst tätig. Beide seien folglich Geheimnisträger gewesen, hätten sich dann aber gegen das Regime von Machthaber Lukaschenko gewandt. Dies ist durch Aussagen von Wegbegleitern, die auch uns vorliegen, belegt. Laut Tatsiana Liseyenka wurde ihr Mann in Polen, wohin sie zunächst geflüchtet waren, von der weißrussischen Geheimpolizei entführt. Nur aufgrund seines Könnens aus seiner Speznas-Vergangenheit sei es ihm gelungen, zu entkommen.
Das, die vielen Repressalien, die sie in ihrer Heimat inklusive Morddrohungen erlebt hatten, und das Wissen ihres Mannes wie dessen Vaters aus Geheimdienstkreisen beunruhigen sie. Er sei vor seinem Tod sehr nervös gewesen, habe zu ihr gemeint, es sei besser, wenn sie nicht zu viel wisse. Dies habe sie damals auch der Kriminalpolizei mitgeteilt. Generell stellt sich die Frage: Würde sich ein ehemaliger Speznas-Soldat im Chambarm ertränken? Nicht einen anderen, augenscheinlich "sicheren" Weg in den Tod wählen?
Vorwürfe macht sich Tatsiana Liseyenka, dass sie nicht auf eine Obduktion des Leichnams, der bereits im Januar eingeäschert wurde, gedrängt habe. Doch warum gab es keine?
Darum gab es keine Obduktion
Das wollten wir von der Kriminalpolizei Regensburg wissen, die uns wiederum in dieser Sache an die Staatsanwaltschaft Regensburg verwies. "In dem durchgeführten Todesermittlungsverfahren war aufgrund der Erkenntnisse aus der erfolgten Leichenschau und ärztlichen Untersuchung des Leichnams die Vornahme einer Obduktion nicht angezeigt", teilte Oberstaatsanwalt Dr. Markus Pfaller, Sprecher der Staatsanwaltschaft Regensburg, mit. Es hätten keine Anhaltspunkte für eine Fremdeinwirkung vorgelegen.
Und Dr. Pfaller weiter: "Vielmehr haben die weiteren Ermittlungen zu dem Todesfall, insbesondere auch die Angaben der Ehefrau des Verstorbenen, dazu geführt, dass eine Fremdbeteiligung zweifelsfrei ausgeschlossen wurde." Auch die Umstände des Auffindens der Leiche hätten keine konkreten Hinweise für Fremdeinwirkung ergeben. Folglich seien sämtliche Ermittlungsmaßnahmen abgeschlossen. Dr. Pfaller betonte auf Nachfrage aber auch: "Sollten sich neue, konkrete Ermittlungsansätze in Richtung einer Fremdbeteiligung ergeben, können in einem derartigen Fall die Ermittlungen ohne weiteres wieder aufgenommen werden."