Zwischen Schwarz und Weiß
Clara hat Borderline
10. Januar 2014, 10:12 Uhr aktualisiert am 10. Januar 2014, 10:12 Uhr
Ihre braunen schulterlangen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Um ihren Hals schlängelt sich ein dicker schwarzer Schal. Sie trägt eine weinrote Stoffhose und eine schwarze Jacke. In ihrer Hand hält das Mädchen einen bunten Ordner, ihre Schultasche hat sie umgehängt. Clara (Name von der Redaktion geändert) ist 17 Jahre alt, lebt in einem Ort im Landkreis Straubing- Bogen und sieht wie ein normales Mädchen aus. Wer sie trifft, merkt nicht, dass sie oft sehr traurig und in sich zurückgezogen ist. "Manchmal gibt es Momente in meinem Leben, in denen ich einfach weg will", sagt Clara. Aber sie kennt auch das Gegenteil: "Ich kann extrem glücklich und aufgedreht sein." Die 17-Jährige ist Borderlinerin. Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, die die Lebensweise jedes Betroffenen komplett auf den Kopf stellt.
Vor rund sechs Monaten schickte Claras Mutter sie zum Arzt. "Mama hat mich eines Nachts dabei erwischt, wie ich weinend im Bett lag. Das kam in dieser Zeit sehr häufig vor. Ich wusste meistens gar nicht, warum ich so traurig bin", erzählt das junge Mädchen. Ein Psychiater stellte die Borderline-Persönlichkeitsstörung fest, nachdem sie ihm alles über ihre Ängste und Sorgen erzählt hatte. Schon mit 14 Jahren hatte Clara mit starken Depressionen zu kämpfen. "Es gab mal eine Zeit, in der ich mich jede Nacht mit einer Rasierklinge geritzt habe. Der Schmerz sollte mich daran erinnern, dass es mich gibt", blickt sie zurück.
Ans Magenknurren gewöhnt
Aber was ist Borderline eigentlich genau? Das ist eine Frage, mit der sich die 17-Jährige nach ihrer Diagnose stark auseinandergesetzt hat. "Ich habe viele Bücher über die Krankheit gelesen. Dadurch habe ich mich selbst besser verstanden", sagt sie. Constanze Profeta, psychologische Psychotherapeutin aus Freising bei Landshut, ordnet Borderline als emotional instabile Persönlichkeitsstörung ein. "Betroffene haben oft Probleme damit, ihre Gefühle zu regulieren. Das heißt, sie geraten in sehr unangenehme emotionale Anspannung", erklärt die Expertin. Das kennt Clara sehr gut. "Ich habe extreme Stimmungsschwankungen. In einem Moment bin ich total überdreht und glücklich, im nächsten Moment bin ich traurig und deprimiert. Ein Gefühl dazwischen kenne ich kaum", erzählt Clara. Ihr Zustand wechsle zwischen den Extremen - traurig und glücklich, schwarz und weiß. Und gleichzeitig fühle sie sich auch innerlich leer. "Es ist oft so, als würde ich in einem Meer aus Gefühlen ertrinken", beschreibt Clara ihre Persönlichkeitsstörung. Außerdem bestraft sie sich selbst, wenn sie merkt, dass sie glücklich ist und andere in ihrer Umgebung nicht. "Dann esse ich den ganzen Tag über nichts. An das Magenknurren habe ich mich mittlerweile gewöhnt", gesteht sie.
"Borderliner wissen oft nicht, wer sie eigentlich sind", sagt Constanze Profeta. Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen haben Betroffene Probleme. "Beziehungen sind oft sehr intensiv, aber wenig stabil. Außerdem handeln Menschen mit Borderline manchmal impulsiv. Ihre Stimmung ist für sie nicht vorhersehbar und es kommt zu Konflikten in der Familie, Schule oder am Arbeitsplatz", erklärt die Psychotherapeutin. Clara führte schon mehrere Beziehungen, aber meistens hat sie die Personen, die sie eigentlich gern mochte, von sich gestoßen. "Ich denke dann ich, habe es nicht verdient, mit jemandem glücklich zu sein. Deswegen reagiere ich so - unbewusst", meint die 17-Jährige.
Schlimme Erfahrungen in der Kindheit
"Was eine Borderline-Störung auslöst, muss immer individuell erarbeitet werden. Meistens finden sich sehr belastende, abwertende oder traumatisierende Lebenserfahrungen", erklärt Constanze Profeta. Solche hat auch Clara in ihrer Kindheit gemacht. Die Liebe, die sie von ihren Eltern wollte, hat sie nicht bekommen. "Ich bin vor dem Fernseher aufgewachsen. Meine Eltern waren nie für mich da. Sie waren entweder in der Arbeit oder sie stritten in der Küche", erinnert sich Clara. Ihre Eltern haben sich dann getrennt. Nach der Scheidung haben sich Clara und ihre Mutter besser verstanden. "Aber ich habe ihr mit 14 Jahren trotzdem verschwiegen, dass es mir schlecht geht", erzählt Clara. "Sie hätte mich nur abgewiesen, weil sie ziemlich viel Stress hatte. Oder sie hätte es gegen mich verwendet", glaubt sie.
Eine Träne rinnt an ihrer Wange hinab. Ihrer Mutter war es wichtig, dass sie gute Noten schreibt. "Eine Zwei war nie gut genug. Sie wollte nur wissen, warum es keine Eins geworden ist. Bei einer Eins hat es sie dann nicht interessiert. Es kam nicht einmal Lob", bedauert Clara. Würde sich die Jugendliche trauen, mit ihrer Mutter offen über ihre verpatzte Kindheit zu reden, würde sie ihr auf keinen Fall Vorwürfe machen. "Ich will ja nicht, dass es ihr schlecht geht", sagt sie. Clara würde vor allem fragen, warum sie überhaupt auf der Welt ist und warum ihre Mutter sie bekommen hat. "Sie hat ja öfter eiskalt zu mir gesagt, dass sie viel lieber einen Hund wollte als ein Kind", erinnert sich Clara. In diesem Moment kann sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten: Das junge Mädchen fängt an zu weinen.
Abgelenkt von den Problemen
Nach einigen Minuten wischt sich Clara über ihre Wangen und putzt sich die Nase. Sie erzählt, dass es auch gute Zeiten gab. "Ich habe darauf geachtet, dass ich keine Sekunde für mich habe, um nachzudenken", erzählt die Jugendliche. Sie lernt viel - auch damit ihre Mutter zufrieden mit ihr ist. Dadurch hat sie fast all ihre Freunde verloren, aber ihren Kummer kann sie dadurch vergessen - dachte Clara. Bis zum Juni 2013. "Da kochte alles wieder hoch und ich wollte nicht mehr leben", erzählt Clara. "Mein bester Freund hat mir durch diese schwere Zeit geholfen." Er ist im Moment der Einzige, dem sie sich anvertrauen kann und von dem Clara glaubt, dass sie ihm etwas bedeutet. "Er versteht, wie ich ticke. Das fasziniert mich sehr", sagt die 17-Jährige. Heilbar ist Borderline nicht.
"Aber Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung kann mit einer Psychotherapie geholfen werden", sagt Psychotherapeutin Constanze Profeta. "In den letzten Jahren hat vor allem die Dialektisch-Behaviorale Therapie, kurz DBT, wissenschaftlich gute Erfolge vorzuweisen", fügt die Expertin hinzu. Diese Therapieform besteht aus Einzel- und Gruppentherapie und wird sowohl stationär als auch ambulant angeboten. Clara nimmt Antidepressiva - Medikamente, die sie vor den extrem depressiven Phasen bewahren sollen. Außerdem führt sie ein Gefühlstagebuch. "Immer wenn ich glücklich bin, soll ich den Moment in diesem Buch festhalten", erklärt sie. Geht es ihr schlecht, kann sie sich mit dem Tagebuch aufheitern.
Ein normales Leben führen
Borderliner können trotz ihrer Persönlichkeitsstörung ein halbwegs normales Leben führen. Auch Clara gibt die Hoffnung nicht auf, dass es für sie so kommt. "Ich wünsche mir, dass ich irgendwann jemanden finde, der mich so akzeptiert und liebt wie ich bin", erzählt das junge Mädchen. Jetzt lächelt sie zum ersten Mal bei diesem Interview. Sie will Kinder, ein Haus und einen guten Beruf. Ganz normale Wünsche und Vorstellungen von der Zukunft also. Normal - das will Clara unbedingt sein.