„Du bist gut, so wie du bist“
Freund und Feind: Sina Vöst hat den Kampf gegen ihre Bulimie gewonnen
22. September 2016, 15:14 Uhr aktualisiert am 22. September 2016, 15:14 Uhr
Zu Besuch auf Sinas Blog: Neben Rezepten und Bastelanleitungen lädt die 19-Jährige vor allem Erinnerungen hoch. Doch nicht alle Blogeinträge blicken auf eine glückliche Zeit zurück. Sina schreibt offen und ehrlich über ihren Kampf gegen eine Krankheit: Bulimie.
Bulimie oder Ess-Brech-Sucht ist eine Essstörung. Betroffene denken ständig über ihre Ernährung nach. Sie hungern, bis der Heißhunger sie überkommt. Dann stopfen sie sich voll und übergeben sich, um die Essattacke ungeschehen zu machen. Eine Freundin erzählt Sina, damals 16 Jahre alt, von dieser Methode. Es sei cool, nach dem Essen zu brechen, schließlich könne man essen, was man wolle. Sina findet das anfangs bescheuert, treibt lieber regelmäßig Sport. Doch irgendwann werden Essattacken und Brechen für sie Alltag.
Juli 2013: Sinas Jeans werden immer enger. Der Blick in den Spiegel ist seit Wochen eine Qual. Sie beschließt, stärker auf ihre Ernährung zu achten. "Obwohl ich nie wirklich dick war", erinnert sich die heute 19-Jährige. Sina verzichtet auf viel, Resultate sind bald sichtbar. "Dafür habe ich viel Lob bekommen. Das hat mich angespornt." Doch mit der Zeit werden die Erfolge weniger, dann bleiben sie ganz aus. Sina legt sich stärkere Verbote auf. Greift sie zu einem Schokoriegel, geht sie sofort Laufen, um die Kalorien abzuschütteln. Sie isst nahezu nichts mehr. Irgendwann bricht der Heißhunger über sie herein: Sina stopft sich voll. Das schlechte Gewissen danach beruhigt sie: Sie steckt sich den Finger in den Hals. "Das Bad war irgendwann einfach näher, als dass ich mich fürs Laufen aufraffe", blickt Sina zurück. Die Jugendliche nimmt immer mehr ab. Alles nur, weil sie gut aussehen will. Weil sie hübsch sein will. "Weil es mir unendlich wichtig war, diese Lücke zwischen den Beinen zu haben", schreibt sie auf ihrem Blog.
Essattacken werden zur Lösung
Die Essattacken dienen Sina schnell nicht mehr nur zum Abnehmen. Sie lenken sie ab, werden zur Lösung, wenn es ihr schlecht geht. "Immer wenn ich emotional am Boden war, habe ich mich vollgestopft. Wenn ich mich übergeben habe, hat sich das befreiend angefühlt. Die Bulimie wurde zu meinem besten Freund", erzählt die junge Frau. Und diese Tiefpunkte gibt es in Sinas Leben zu dieser Zeit sehr oft - wegen der Trennung ihrer Eltern, Problemen in der Familie oder Streit mit Freunden.
Bald wirkt sich das auf ihren Körper aus, weil ihr viele wichtige Nährstoffe fehlen: Sinas Haare werden dünner, fallen teilweise aus. Ihre Nägel werden brüchig. Die Magensäure, die beim Brechen hochkommt, greift Zähne und Stimmbänder an. Die 19-Jährige muss ihre Leidenschaft, das Singen, aufgeben, kann nicht mehr zum Gesangsunterricht gehen. Sie bekommt Hamsterbacken, enttäuscht Freunde, weil sie jede Party und jedes Treffen absagt, denn sie traut sich nicht mehr aus dem Haus. "Ich bereue das so sehr, weil ich die schönste Zeit in meinem Leben, meine Jugend, vergeudet habe."
Mit Freunden spricht sie über die Bulimie nicht. Ihren Eltern vertraut sie sich nach und nach immer weiter an. Regelmäßige Gespräche mit einem Psychologen helfen nicht weiter. Dann wird ein Zimmer in einer Klinik frei - nur wenige Monate vor Sinas Abiturprüfungen im Frühjahr 2015. Das hält sie aber nicht ab. Sie geht in die stationäre Behandlung mit dem Ziel, zu den Prüfungen von der Bulimie befreit zu sein. "Denn ich wollte den Abschluss mit den Menschen machen, mit denen ich seit Jahren zur Schule gehe", betont die 19-Jährige.
"Du bist gut, so wie du bist"
Und sie schafft es: Sina lernt wieder, richtig zu essen. Sie nimmt sich selbst wieder als schön wahr. Sie verinnerlicht: "Du bist gut, so wie du bist!" Sie schafft ihr Abitur, kann sich wieder dem Singen widmen, traut sich wieder unter Menschen. "Meine Bulimie ist jetzt ein Feind, vor dem ich keine Angst mehr habe." Sie sammelt sogar so viel Kraft, dass sie ehrliche Worte über ihre Bulimie auf ihrem Blog veröffentlicht - ohne sich zu verstecken. "Ich schäme mich nicht für das, was passiert ist. Ich will anderen mit meiner Geschichte helfen", erklärt Sina. "Es fühlt sich befreiend an, alles aufzuschreiben."
Aber die Bloggerin hat sich entschieden, nicht nur über ihre Bulimie zu schreiben. Sie widmet sich auch anderen Themen. Damit will sie zeigen: "Ich bin nicht nur meine Krankheit. Und es gibt ein Leben nach der Bulimie. Betroffene können es da raus schaffen."
Würde sie ihre Vergangenheit umkrempeln, wenn sie könnte? "Nein! Klar, würde ich verhindern, dass ich mich so oft übergebe. Aber ich bin stark aus dieser Krankheit herausgekommen. Sie hat mich zu der gemacht, die ich heute bin und ich bin sehr glücklich."
Und das zählt für Sina: Schönheit heißt für sie nicht länger, dass man dazu einen gut gebauten Körper braucht. Menschen strahlen von innen. Jeder ist auf seine Weise schön - vor allem, wenn er glücklich ist. Diesen Gedanken setzt Sina auch um, wenn sie sich im Spiegel sieht. Sie lächelt. "Ich denke, dass ich ganz hübsch bin. Vielleicht könnte ich weniger Pickel haben, aber ich bin auf jeden Fall zufrieden mit mir selbst."
Sinas Blog findest du unter sinamarieblog.wordpress.com
Der Zwang, perfekt zu sein: Interview mit Diplom-Psychologe Vladimir Bajza zum Thema Bulimie
Sie denken ununterbrochen übers Essen nach, stopfen sich regelmäßig voll und übergeben sich anschließend - aber warum? Das erklärt Vladimir Bajza, Diplom-Psychologe an der Heiligenfeldklinik in Waldmünchen.
Was führt zu einer Bulimie?
Vladimir Bajza: Laut dem aktuellen Stand der Forschung spielen hier viele Faktoren zusammen. Es können familiäre Konflikte und damit verbundene traumatische Erlebnisse sein. Häufig dürfen Gefühle und Bedürfnisse nicht offen geäußert werden. Die Bulimie ist eine Reaktion auf einen Konflikt, der sich im Alltag nicht lösen lässt. Der Versuch, Essen und Gewicht zu kontrollieren, vermittelt Sicherheit. Das Unterdrücken des Hungergefühls funktioniert aber nicht ewig, dann kommt es zu Essanfällen. Das Brechen - so beschreiben es viele Patienten - baut emotionale Spannung ab und reduziert die Scham, so viel gegessen zu haben. Auch der Einfluss von Gleichaltrigen und Vorbildern spielt eine Rolle. Vor allem junge Mädchen, die mit ihrem Körper oft unzufrieden sind, vergleichen sich stark. Sie finden sich oft zu dick. Deshalb hungern sie, treiben exzessiv Sport und nehmen Abführmittel.
Kommt man selbst wieder raus?
Nein. Günstig für Betroffene ist, dass sie schnell die Einsicht haben, dass sie ein Problem haben. Sie leiden unter enormen Druck. Ich kenne viele Patienten, die versucht haben, sich selbst zu heilen. Aber: Eine Essstörung hat nie nur mit Essen zu tun. Es geht um emotionale Lasten, Konflikte in der Familie, ein schlechtes Selbstwertgefühl, den Zwang, in allen Lebensbereichen "perfekt" sein zu müssen. Das muss durch eine Therapie behandelt werden. Betroffene müssen einen Zusammenhang von Gefühlen und Gedanken zum Essverhalten herstellen. Sie müssen den Kreislauf unterbrechen und zum Beispiel lernen, ihre Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Viele Betroffene müssen auch lernen, sich von den Anforderungen Anderer und dem Zwang, "perfekt" sein zu wollen, abzugrenzen. Und natürlich gehört das Erlernen eines gesunden Essverhaltens dazu.
Wann spricht man von Bulimie?
Dafür gibt es diagnostische Kriterien. Betroffene fühlen sich ständig zu dick und haben krankhafte Angst davor, zu dick zu werden, obwohl sie normalgewichtig sind. Sie setzen sich ständig mit Essen auseinander, überlegen dauernd, was sie essen können und wie sie nicht dick werden. Deshalb können sie Essen nicht mehr genießen. Viele haben auch Diätversuche hinter sich. Es müssen mindestens zwei Ess-Brech-Attacken pro Woche innerhalb von drei Monaten oder die häufige Nutzung von Abführmitteln, Appetitzüglern oder übermäßigem Sport vorkommen. Wer Sorge hat, betroffen zu sein, kann sich an seine Eltern wenden oder er spricht mit einem Arzt, dem er vertraut.
Wie eine Sucht: Weitere Infos zur Krankheit Bulimie
Viele Bulimie-Patienten haben begleitend oft auch eine Depression, Angst- oder Zwangsstörungen, in extremen Fällen treten auch Selbstverletzungen auf. "Sie verlieren Interessen und Hobbys, sie ziehen sich zurück", erklärt Vladimir Bajza, Diplom-Psychologe an der Heiligenfeld-Klinik in Waldmünchen. Er vergleicht die Auswirkungen einer Bulimie mit denen einer Sucht: Die Betroffenen haben zum Beispiel Probleme mit Freunden oder im Elternhaus. Außerdem beschäftigen sie sich nahezu in jeder Minute mit Essen und zählen dauernd Kalorien. "Das erfordert wahnsinnig viel Energie, die dann an anderen Stellen fehlt", fügt der Experte hinzu. Das Problem dabei: Betroffene nehmen oft nicht ab, sondern haben meist ein Normalgewicht. Dadurch entsteht ein starker negativer Kreislauf. Sie denken ständig, dass sie dicker und dicker werden.