Im Meer schwimmen Menschen
Johanna Graßl (18) aus Lam stellt das Buch „Im Meer schwimmen Krokodile“ vor
26. September 2014, 17:00 Uhr aktualisiert am 26. September 2014, 17:00 Uhr
Die Flüchtingsströme nach Europa wachsen täglich - vor allem aufgrund von Krisen in Nahost, Nord- und Zentralafrika. Bilder von Bootsflüchtlingen auf dem Mittelmeer sind keine Seltenheit. Diese Menschen riskieren den Tod für ein besseres Leben - sei es aufgrund von Armut oder von politischer Verfolgung. Und während die Asylverfahren lange dauern, urteilt die europäische Bevölkerung oft vorschnell. Jedem, der sich für das Thema interessiert, oder der meint, über sie urteilen zu können, ohne die Hintergründe der Flüchtlinge zu kennen, empfehle ich das Buch "Im Meer schwimmen Krokodile - Eine wahre Geschichte".
Der Autor Fabio Geda arbeitet mit Flüchtlingen in Italien und begegnete in diesem Zusammenhang Enaiatollah aus Afghanistan. Im Buch erzählt er dessen Geschichte. Da Enaiatollah in seinem Heimatland einer Minderheit angehörte, die von den Taliban verfolgt wurde, hielt ihn seine Mutter als kleinen Jungen zur Flucht aus dem Land an.
So begann seine Reise durch Pakistan und den Iran, wo er sich mit schwerer körperlicher Arbeit hart sein täglich Brot verdienen und stets in Angst leben musste - vor Abschiebung oder Verhaftung in ein Arbeitslager. Schließlich gelang ihm mithilfe von Schleusern unter extremen Bedingungen die Flucht in die Türkei. Dabei wurde er tagelang in einem beengten Raum unterhalb der Ladefläche eines Lastwagens transportiert - ohne Nahrung oder Toilette. Viele, die wie Enaiatollah Richtung Europa geflohen waren, kamen auf der Strecke dahin ums Leben.
Enaiatollah schaffte es mit einem Schlauchboot nach Griechenland. Auf diese Etappe seiner Reise bezieht sich der Buchtitel "Im Meer schwimmen Krokodile", denn Enaiatollah hatte vor der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland gerätselt, ob im Meer wohl Krokodile eine Gefahr sein würden. Letzten Endes landete Enaiatollah in Italien, wo er bis heute lebt. Mithilfe anderen Afghanen schaffte er es, dass sich die Migrationsbehörde um ihn kümmerte - schließlich war er bei seiner Ankunft in Italien immer noch minderjährig. Da die Heime für Asylsuchende überfüllt waren, landete Enaiatollah durch einen glücklichen Zufall bei einer Pflegefamilie, bei der er sich wohlfühlte. So lernte er rasch Italienisch und besuchte eine weiterführende Schule. Schließlich erhielt er eine Aufenthaltsgenehmigung.
Enaiatollah musste sich bereits in seiner Kindheit in fremden Ländern und in steter Gefahr alleine durchschlagen. Ich habe meine Zweifel, dass heutige "westliche" Jugendliche in solchen Situationen zurechtkommen könnten. Enaiatollah gelang es, sich in Italien innerhalb kurzer Zeit zu integrieren und sich dort ein neues Leben aufzubauen. Ich finde seine Geschichte sehr berührend. Sie zeigt zum einen, was Verfolgung und Flucht bedeuten, und erzählt zum anderen, unter welch erbärmlichen Bedingungen es manchen Menschen durch eine tapfere und positive Einstellung immer noch schaffen, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Auch daran könnte sich so mancher Mitteleuropäer ein Beispiel nehmen.
Enaiatollahs Geschichte zeigt in einprägsamer Weise, dass Integration funktionieren kann, und welch wunderbare Menschen diese "Fremden" sein können, die derzeit nach Europa kommen. Zweifelsohne werden die Flüchtlingsströme zu Veränderungen führen und Europa vor eine große Herausforderung stellen. Doch es ist wichtig, beide Seiten zu sehen, und - bevor man etwas sagt - darüber nachzudenken, ob das Urteil angebracht ist. Ganz nach der Lebensweisheit: "Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht sieben Meilen in seinen Schuhen gegangen bist."