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Leles Hecheln - Eine Kurzgeschichte
17. Oktober 2016, 16:30 Uhr
Lele läuft ganz dicht neben mir, bleibt an meiner Seite. Begleitet mich. Es ist derselbe Weg wie jeden Tag. Lele kennt ihn schon auswendig. Sie schweift leicht aus, verläuft aber größtenteils gleichmäßig. Es ist still - bis auf den Wind, der uns umweht. Sie streicht durch das Gras und die Halme biegen sich im Rhythmus des Luftzuges. Die Bäume am Straßenrand werfen Schatten, die Sonne wärmt uns.
Lele bleibt stehen, sieht zu mir auf und setzt sich. Ihre Augen sind konzentriert und ihr Blick ruht erst auf meiner Iris, als ich den Blick erwidere. Dann legt sie den Kopf fragend zur Seite, was mir ein Lächeln entlockt. "Komm, Lele. Wir gehen noch bis zur Holzbank", sage ich. Lele legt den Kopf noch schiefer und sieht aus, als würde sie nicken. Ich mache ein paar Schritte und Lele folgt mir. Ihr Gang ist gleichmäßig und sie läuft wieder ganz dicht neben mir, während der Schotter unter unseren Füßen knackt.
Der Weg ist zu Ende, wir stehen vor der Holzbank und Lele sieht mich fragend an. Ich nicke ihr zu, woraufhin sie auf die Sitzbank springt. Sobald die Sonne auf ihr Fell fällt, glänzt es und ihre rehbraunen Augen gleiten aufmerksam über die Landschaft. Ihr Kopf ist dabei zur Seite gelegt, die Ohren gespitzt. Die Sonne wirft ihre Strahlen sanft auf uns, bis uns wohlig warm wird und sich Lele an mich kuschelt und mich aufmerksam ansieht. Ich streichle ihr behutsam über den Kopf, bis sie die Augen schließt, sich neben mich legt und ihre Schnauze ein kleines Stück öffnet, um zu hecheln. Sanft und gleichmäßig. Und so leise, dass nur ich es hören kann.
Lele lässt ihre Pfoten baumeln und legt die Ohren zurück, als ich einen Schatten wahrnehme. Zuerst einen, dann mehrere. Sie sind vor uns. Ungefähr zweihundert Meter weit weg. Bei ihrem Anblick wird mir ganz kalt und ich habe das Bedürfnis, mich in eine Decke zu kuscheln. Ich fröstle immer mehr, während eisige Kälte in mein Herz kriecht und sich dort ansammelt wie Zucker am Tassenboden. Ich wage kaum aufzusehen, doch als Lele ihre Ohren spitzt und sich aufsetzt, tue ich es doch, auch wenn es mir beinahe das Herz herausreißt.
Ich kann nur die Umrisse und die Schatten der Personen erkennen, aber ich weiß, dass ich mich nicht täusche. Es ist Amelie. Lele sieht mich an, wobei ihre rehbraunen Augen vor Unruhe glänzen und sie nervös hin und her trippelt. Ihre Pfoten bewegen sich immer hektischer auf dem Holz und sie findet keine Ruhe, bis sie sich schließlich ganz dicht neben mich setzt und ich sie in den Arm nehme, sodass ich ihre Wärme spüren kann.
Ich habe Angst, dass das, was wir sehen würden, zu viel für ein Herz ist. Ein Herz allein würde fallen. Es würde Kraft kosten, es aufzuheben, die Splitter, in die es zersprungen ist, wieder zusammenzusetzen und an jenen Ort zurückzubringen, an dem sie als Herz für einen geschlagen haben. Es würde Stärke kosten, dem Herz einzureden, dass es weiterschlagen muss, weil der Schmerz nicht gewinnen darf.
Aber zwei Herzen - was würden sie tun? Sich gegenseitig auffangen oder zusammen fallen? Amelie holt eine Tüte heraus und ich sehe zu Boden, weil ich nicht hinsehen kann. Lele trippelt panisch auf der Stelle herum und winselt erbärmlich auf. Sie gräbt die Schnauze in mein Shirt, bis es wehtut. Aber nicht so weh, wie der Schmerz in meiner Brust, der aufkeimt und alte Wunden aufreißt. Und verflucht: Wunden, die schon dabei sind zu heilen, aber erneut aufreißen, heilen verdammt schlecht.
Ich grabe meine Hand in Leles Fell und schwöre mir, mich nicht von dem überwältigen zu lassen, was hier gerade passiert. Aber die Tränen, welche meine Augen hinaufkriechen, sprechen eine andere Sprache. Oh, Tränen sind so elende Verräter - obwohl sie nur dann über die Wangen laufen, wenn einen alle verlassen oder man zu lange zu stark sein muss.
Ich halte Lele noch fester im Arm und lasse den Boden, dessen Bild langsam vor meinen Augen verschwimmt, nicht aus den Augen. Doch ich kann nicht verhindern, dass meine Gedanken stets bei Amelie sind. Die Szenen der letzten Wochen laufen in Dauerschleife vor meinen Augen ab, die Bilder brandmarken meine Seele und graben das Vergessene wieder hervor.
Amelie dealt und lässt das hässliche Gefühl, welches ich zu vergessen versucht habe, wieder auflodern wie die Glut im Wind. Vielleicht ist das wieder das erste Mal. Es hat schon so viele erste Male gegeben. Nach jedem Entzug eines. Es ist stets gleich abgelaufen und jedes Mal hat es mehr wehgetan. Vielleicht ist es das zweite Mal. Das dritte Mal. Das vierte Mal. Lele winselt und mir rollt eine Träne über die Wange.
Ich weiß, dass Amelie wieder süchtig werden würde. Jedes Mal aufs Neue. Immer und immer wieder. "Warum?", frage ich leise. Lele gräbt sich aus meinem Shirt hervor und sieht mich an. Ich weiß, dass sie alles versteht. Jede Szene. Jedes Wort. Alles. Lele winselt und schüttelt sich. Versucht, das abzuschütteln, was so wehtut.
"Komm her, Lele", flüstere ich, hebe sie hoch und trage sie vorsichtig zum Schotterweg zurück. Und Lele hechelt. Sanft und gleichmäßig. Und so leise, dass nur ich es hören kann.