Freizeit!

Fünf Menschen, zwei Augen


Svenja Fabian ist blind - und begeisterter Metalfan. Zusammen mit Freunden besuchte sie das Konzert der Heavy-Metal-Band Accept in Straubing. Eine gewohnte Herausforderung für sie.

Svenja Fabian ist blind - und begeisterter Metalfan. Zusammen mit Freunden besuchte sie das Konzert der Heavy-Metal-Band Accept in Straubing. Eine gewohnte Herausforderung für sie.

Von Redaktion idowa

Svenjas gebückter Oberkörper schwankt. Ihr Kopf stößt auf und ab im Rhythmus der Musik. Gitarrensound dröhnt aus den Lautsprechern, die Schläge des Schlagzeugs hämmern im Bauch. Svenjas lange blonde Haare wirbeln durch die Luft, verdecken ihr Gesicht. Der Sänger der Metalband kreischt, spuckt den Songtitel ins Mikrofon: "Princess of the dawn." Svenja bäumt sich auf, lacht, sieht mit ihren blinden, trüben, blauen Augen an die Decke.

Scheinwerfer fluten die dunkle Halle, Licht stürzt auf die begeisterten Gesichter von Svenjas Freunden: Henning, 34, blind. Manuel, 36, fast blind, genauso wie Raphael, 27. "Yeaaaaaah", brüllen Manuel und Raphael, reißen die Arme in die Luft, klatschen in Richtung Bühne. Henning steht hinter ihnen, ruhig, grinsend, von der Bühne abgewandt. Dass er in die Menge starrt, stört ihn nicht. Auch Katharina, 34, klatscht zurückhaltend. Sie mag die Musik von "Accept", mag Heavy-Metal. Ein echter Fan ist sie nicht, sagt sie über sich selbst. Sie ist das Auge der Gruppe, beobachtet ihre Freunde, wie sie in der biertrinkenden Menge jubeln. Auch sie lächelt, wirkt aber angespannt. Svenja sieht das nicht.

Svenja kam vor 33 Jahren zu früh zur Welt, mit gesunden Augen. Die ersten Wochen ihres Lebens lag sie in einem Brutkasten. Danach waren ihre Augen kaputt. Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit. Mehr zeigen sie ihr heute nicht mehr. Wenn Svenja erzählt, warum sie blind ist, spricht sie ruhig, als würde sie über das Wetter reden. Und sie spricht auch für Manuel und Henning. Denn die drei teilen dieselbe Geschichte, von den 70ern, von Brutkästen, von blinden Babys, von dem, was Manuel lapidar "versaute Frühchen" nennt. Was ihre Augen zerstört hat, wissen die drei auch heute noch nicht. Der Sauerstoff könnte schuld sein, vermuteten Mediziner. "Wir sind blind. Das Warum spielt letztendlich keine Rolle", sagen Svenja und die beiden anderen. Es klingt, als würden sie vom Wetterbericht erzählen. "Wir leben damit, weil wir es müssen. Einschränken lassen wir uns davon nicht."

Svenja fällt Manuel um den Hals. Er hat an diesem Abend Geburtstag, feiert mit der Musik von "Accept", die er seit seiner Jugend hört. Manuel hat langes braunes Haar, das sich über der Stirn lichtet. Er trägt eine zerschlissene Lederjacke und ein schwarzes Shirt darunter. Bei seinen ersten Konzerten hatte er noch eine gelbe Blindenbinde mit schwarzen Punkten am Arm. Er fühlte sich unwohl, gekennzeichnet. Heute lässt er sie aus Prinzip zu Hause.

Die Menge brüllt

Manuel legt einen Arm um Svenjas Hüfte, schreit in ihr Ohr, schaut in ihre trüben, blauen Augen. Die Musik rollt dumpf über sie und hunderte schwarze Hemden hinweg. Svenja sieht an ihm vorbei. Sie lacht und streicht sich die Haare aus der feuchten Stirn. Die Gitarristen auf der Bühne streicheln die Saiten der elektrischen Gitarren, schnell, schneller. Das Kreischen schmerzt in den Ohren. Die Menge brüllt, Hände stoßen in die Luft. Auch Svenja ballt ihre Faust, spreizt kleinen und Zeigefinger zum Gruß in Richtung Bühne. Die Band grüßt zurück. Svenja sieht das nicht.

Wochen vor dem Konzert saßen Svenja, Raphael und Katharina in einer Bar in Marburg, ihrer Heimatstadt. Sie tranken Bier, redeten über die Accept-Tournee, das Konzert im drei Autostunden entfernten Stuttgart, und darüber, dass die Band an Manuels Geburtstag in Straubing spielt. Von Marburg nach Straubing ist es weit, über vier Stunden ist man mit dem Auto unterwegs. Dorthin zu fahren, das wäre verrückt, sagten sie. Aber witzig, meinte Svenja und grinste. "Ein tolles Geburtstagsgeschenk."

Wieder werfen Scheinwerfer dicke Strahlen in die Menge. Auf der Bühne hat der Sänger sein T-Shirt ausgezogen, ahmt die Gitarristen nach. Er springt von einem zum anderen. Ein Löwenkopf hinter dem Schlagzeuger, groß wie ein Traktorreifen, blitzt mit feuerroten Augen. Svenja sieht das nicht.

Hunderte berauschte Fans, flackerndes Scheinwerferlicht, Musiker in Ekstase, ihr eigenes schwarzes Fan-Shirt. "Nichts von dem habe ich je gesehen", sagt Svenja. Sie erlebt Konzerte anders. "Ich spüre die Menschen um mich herum, manchmal auch die Hitze der Scheinwerfer in meinem Gesicht oder den Bass im Boden. Dann vibriert der ganze Körper." Ihre Welt aber bleibt bild- und farblos. Daran ist sie gewohnt. "Ich weiß, dass ich nicht alles mitbekomme. Aber egal ist es mir nicht, wie die Welt aussieht", sagt sie und erzählt, dass sie es mag, wenn andere Bilder mit ihr teilen. Wenn ihr Katharina von dem Sänger ohne T-Shirt erzählt. Dass er schwitzt, sich graues Haar auf seiner Brust kräuselt, ist ihr egal. Svenja will Besonderes, keine belanglosen Details. Sie schätzt gute Beschreibungen. Wie die von Katharina.

Dicht an dicht stehen die Menschen, die Svenja von der Bühne trennen. Eine schwarze Wand. Sie wippen ihre Körper im pochenden Takt der Musik oder nicken still mit den Köpfen oder schütteln ihr langes Haar. Svenja quetscht sich vorsichtig dazwischen und schaukelt mit. Die Menschen sind größer als sie. Sie weiß das, sagt sie, wenn sie von ihren Konzerten erzählt. "Weil ich ihre Schatten spüren kann." Ein junger Mann neben ihr streckt den Bierbecher in seiner Hand in die Höhe. Er wirft den Kopf in den Nacken, schüttet das Bier in seinen aufgerissen Mund, schüttelt dabei den braunen Stoppelkopf und besprengt damit die Menschen um sich. Biertropfen landen auf Svenjas Shirt und einem Zwei-Meter-Hünen in kurzen Hosen. Der jubelt dem Biersprenger lachend zu. Svenja sieht er nicht.

"Die Musik ist aggressiv"

Metal gehört zu Svenjas Leben. Nicht weil sie blind ist, sagt sie. "Sondern weil die Musik aggressiv ist, laut und hart, und durch Mark und Bein schießt." Das reizt sie. Und Konzerte und Festivals noch mehr. Manchmal geht Svenja alleine dorthin, wenn keiner ihrer Freunde Zeit hat und Bands in Marburg oder Umgebung spielen. Dort kennt sie sich aus, fragt sich durch, zur Bahn, zu Getränkeständen, zu Toiletten. "Musik hören kann man auch zu Hause. Aber Musik erleben kann man nur dort."

Das sagt sie denen, die sie fragen, warum sie und ihre blinden Freunde auf Konzerte gehen, obwohl sie doch nichts sehen. Und sie erzählt von dem Gefühl, in der Masse zu stehen, dicht gedrängt, sich treiben zu lassen. "Dort spielt es keine Rolle, ob wir sehen", sagt Svenja. "Alle warten auf die Band, alle wollen das Gleiche." Bei Konzerten erlebt sie, was ihr im Alltag manchmal fehlt: Zusammengehörigkeit.

Raphael geht Svenja voraus zum Bierstand, ihre Hand liegt auf seiner Schulter. Im Gegensatz zu Svenja ist Raphael noch nicht ganz blind, war es auch nicht von Geburt an. Mit 15 fuhr er noch Fahrrad und las Zeitung. Mittlerweile steigt er auf kein Rad mehr. Sein Stoffwechsel ist gestört, die Krankheit stiehlt ihm mehr und mehr sein Augenlicht. Wenn er und Svenja alleine auf Konzerte gehen, passt Raphael auf, auf sich und auf Svenja. Dafür braucht er alle seine Sinne und zu viel Alkohol würde ihm die nehmen. Heute aber kann er trinken, weil Katharina ihn und die anderen begleitet.

Crowdsurfer mag sie nicht

Früher, bei ihren ersten Konzertbesuchen, hatte Svenja Angst, ihre Freunde in der Masse zu verlieren. Heute sucht sie das Gedränge. Dort muss sie aufmerksam sein, auf Ellbogen achten. Aber sie mag dieses Gefühl, eins zu sein mit der Masse. Je dichter die Menschen stehen, umso besser. "Davor habe ich keine Angst. Bei denen, die sehen, was vor ihnen abgeht, ist das wohl anders", sagt sie. Nur wenn Leute von oben kommen, das mag sie nicht. Crowdsurfer. "Die spüre ich nicht kommen."

Svenja hält sich an Katharinas Schulter fest. Sie bahnen sich einen Weg durch die Menge in Richtung Ausgang. Die Band hat nach zwei Stunden aufgehört zu spielen. In einer leeren Halle könnte sich Svenja alleine helfen, würde Wände und Türen hören. Hier aber hört sie nur Schreie, laute Musik. Deshalb braucht sie Katharina, das Auge der Gruppe. Vereinzelte Blicke folgen den vier Blinden, die sich aneinander festhalten, und der blonden Frau, die sich an der Spitze der Gruppe mit langsamen Schritten durch die Menge schlängelt. Fünf Menschen, zwei Augen.

von Simon Franz

Die Hitze der Scheinwerfer im Gesicht, der Bass im Boden, Vibrieren im Körper. Svenja sagt: "Bei Metal-Konzerten spielt es keine Rolle, ob wir sehen." (Fotos: -fra-)

Die Hitze der Scheinwerfer im Gesicht, der Bass im Boden, Vibrieren im Körper. Svenja sagt: "Bei Metal-Konzerten spielt es keine Rolle, ob wir sehen." (Fotos: -fra-)